Frauen - willige Opfer der Medizin?
Früherkennung, Hormone, Geburtsmedizin auf dem Prüfstand kritischer Wissenschaft
- Wege zu einer zeitgemässen Praxis


Autor: Barbara Katz Rothman
Keywords: Frauenheilkunde, evidence based medizine, klinische Forschung, Medizinkritik, Patienteninformation, Evaluation, pränatale Diagnostik, Geburtsschmerzen
Abstract:
Copyright: Texte: Stiftung PARACELSUS HEUTE
HTML-Gestaltung:  Bernhard Harrer Wissenstransfer

Autoren
Begrüßungen
Die alternde Frau
Die schwarze Madonna/Theater
Die schwangere Frau
Die krebsgefährdete Frau
Moderne Medizin
 

Dr. Johannes G. Schmidt,
Was ist Behandlungsnutzen? - Cholesterin oder vom 1. zum 2. Wissenschaftlichen Einsiedler Symposium
Nora Jacobson,
Die weibliche Brust - Schönheits-Operationen als medizinische Normierung und Perfektionierung des Frauenkörpers
Prof. Karl W. Kratky,
In welchem Sinn ist die moderne Medizin eine Naturwissenschaft? - <<Weiblich-Chaotisches>> in der modernen Physik
Prof. Alvan R. Feinstein,
Krankheitserscheinungen am intakten Menschen - Was für eine Nosologie der Krankheitseinteilung brauchen wir?
Prof. Barbara Katz Rothman,
Entstehung von Leben unter Geburtsschmerzen - Sind Frauen Opfer ohne Wahl?
 Jon Rudolf Boner,
Wir meinen, es müsse einen Grund geben, weshalb wir krank oder gesund sind und weshalb diese Krankheit bösartig und jene gutartig verläuft. Wenn wir sehen, wie sich Ursache nach Ursache finden und sich der letztendliche Grund nie festmachen lässt, können wir unser Leben als Geheimnis akzeptieren und so in einem ursprünglichen Bewusstsein Klarheit für viele Fragen finden.


Entstehung von Leben unter Geburtsschmerzen - Sind Frauen Opfer ohne Wahl?

(Original-Titel des englischen Vortrags: The painful emergence of life - On victims, power and choices)

Prof. Barbara Katz Rothman
Department of Sociology, City University of New York/USA

Die meisten Fragen an diesem Wochenende waren eigentlich Variationen der einen Frage. Die Frage, ob es funktioniert? Wir haben uns die chinesische Medizin angesehen, Früherkennung und Behandlung von Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs-Vorsorge, psychologische Arbeit und Therapie mit Krebspatienten, Behandlungsmöglichkeiten und Hormontherapie während des Klimakteriums und in der Postmenopause, Hebammen-Tätigkeit, alternative Behandlungsmethoden, Ultraschall-Diagnosen und pränatale Tests. Immer wieder ist manchmal wirklich guter Wille und Neugier das Anliegen. Und manchmal kommt mit der Frustration dann auch immer wieder die eine Frage: Funktioniert es?

Im Lichte des Themas dieses Symposiums - Sind Frauen willige Opfer der Medizin? - geht man offenbar davon aus, dass falls all diese Dinge oder andere Dinge so funktionieren, wie wir uns das vorstellen und Krankheit reduziert oder vorgebeugt werden kann, ob dann wir Frauen, die wir diese Dienste in Anspruch nehmen, nicht tatsächlich Opfer sind. Ich bin nicht sicher, ob das auch wirklich richtig ist. Es gibt auch Menschen, die medizinische Hilfe in Anspruch genommen haben, und es hat funktioniert. Und trotzdem fühlten sie sich sehr stark bedrängt, fühlten sie sich manchmal sogar missbraucht oder beinahe vergewaltigt. Aber es hat funktioniert, und das war ja wohl die ursprüngliche Absicht. Warum sollten Sie also Opfer sein?

Wenn aber eine Methode, wenn diese Technologie nicht funktioniert und wir Frauen diese hochtechnologisierte Medizin - z.B. Früherkennung, Mutterschaftsversorgung, Mastektomie, chinesische Medizin usw. - trotzdem nutzen, dann sind wir wirklich Opfer. Die einzige Frage, die also noch bleibt, ist die Frage der Bereitschaft. Wie bereit(willig) sind wir? Wie gutgläubig sind wir? Wie sehr tragen die Frauen aktiv, manchmal sogar übereifrig dazu bei? Wie tragen wir also zu unserer eigenen Opferbereitschaft bei? Sind wir eigentlich nur dumm? Oder machen wir uns etwas vor? Sind wir rigide? Sind wir entmutigt oder feige?
 

Wahlmöglichkeiten

Ich habe im Verlaufe dieses Wochenendes Frauen, Krebskranke, andere Patientinnen, Mütter oder werdende Mütter gehört, die uns all das, was ich eben gesagt habe, vorwerfen. Das Programm oder das Ziel, das sich aus all dem, was wir an diesem Symposium bisher getan haben aufdrängt, zentriert sich um die Frage der Information. Wie bekommen wir mehr und bessere Information darüber, was funktioniert? Wir haben dazu sehr aufschlussreiche Referate gehört. Und wie bringen wir diese Information auch hinüber zu den potentiellen Opfern? Es werden uns eigentlich zwei Modelle angeboten dessen, was wir tun sollten in dieser Welt und wie wir uns selber sehen sollten. Sie werden oft als dasselbe beschrieben, aber es ist nicht dasselbe. Das eine ist der aufgeklärte Verbraucher. Das andere Modell ist der aufgeklärte Sucher nach Wahrheit. Ein bisschen spirituell, ein bisschen praktisch, aber jedenfalls informiert, aufgeklärt und neugierig. Ein mit Wissen ausgestatteter Mensch. All diese Vorträge sind also auf eine Person, ein Individuum ausgerichtet. Und wie sieht diese Person aus? Eine starke, wunderschöne, schwarze Göttin, die ruhig da schwebt und uns leitet. Aber nicht alle Probleme können auf der Ebene des Individuums gelöst werden, weder von Göttinnen noch von anderen. Und es führt nicht alles notwendigerweise direkt zur Macht. Frauen müssen entscheiden können, ist immer wieder gesagt worden. Sie müssen entscheiden, sie werden vor Entscheidungen gestellt, das zu tun oder jenes zu tun, aufgrund der ihnen gegebenen Informationen. Aber sehr oft, viel zu oft, unglaublich oft wird ihnen viel zu wenig Information und in der allermeisten Fällen falsche, mangelhafte, unzulängliche und irreführende Information gegeben. Auf jeden Fall aber falsche Information. Also müssen Frauen z.B. zwischen der Alternative entscheiden, entweder Brust ab oder das Leben. Deine Würde oder ein gesundes Kind. Dein Geld, Dein Vertrauen, Dein Leben, Deine Seele wird gefordert.

Wir, die wir hier sind und versuchen, uns damit auseinanderzusetzen, müssen die Information geben! In jeder Situation müssen wir bessere, vollständigere Information geben. Wir dürfen der Frau nicht nur eine Alternative offerieren, sondern wir müssen ihr sagen, dass sie mehrere Möglichkeiten hat und zwischen verschiedenen Alternativen wählen kann. Und deshalb müssen wir immer mehr Information geben. Das ist zweifellos ganz klar. Und es muss gute, richtige, umfassende und ausführliche Information sein. Das ist wirklich wesentlich!
 

Situationen ohne Wahl

Ich möchte Sie am Schluss dieser Konferenz daran erinnern, dass Information wirklich wesentlich ist, für ein ethisches Vorgehen. Aber das genügt nicht. Was geschieht, wenn eben gerade die Information eine Belastung ist? Ich möchte ein Beispiel nennen, das vielleicht extrem ist, aber es ist rhetorisch gemeint, der Film Sophie's Wahl. Die Geschichte einer Frau, die ein absolut fürchterliches Leben hatte. Sie war im Konzentrationslager, hat Hunger und Folterung erlitten, wirklich grauenhaft. Aber von den vielen schrecklichen Dingen, die sie erlebt hat, ist das Schrecklichste eigentlich die furchtbare Wahl, die sie zu treffen hat. Sie ist nämlich mit ihren Kindern, einem Sohn und einer kleinen Tochter im Konzentrationslager. Die Kinder werden ihr weggenommen und sollen getötet werden. Natürlich
will sie die Kinder behalten, und sie fleht den Wachhabenden an und bittet ihn, die Kinder zu retten. Der Aufseher willigt ein, ihr ein Kind zu lassen und stellt sie hiermit vor die Wahl. Das ist keine wohltätige Sache, die er da macht, sondern es wäre wahrscheinlich wohltätiger, sie nicht vor diese Wahl gestellt zu haben.

Aber überlegen wir uns mal die Strategien, die wir an diesem Wochenende entwickelt haben. Wie können wir Sophie helfen? Wir können ihr mehr Information geben. Wir können ihr Statistiken anbieten über die Überlebensraten von Kindern, die in Konzentrationslagern aufgewachsen sind. Sie sollte all das wissen. Sie muss es vielleicht auch wissen, wenn sie eine rationale Entscheidung treffen will. Aber würde ihr das in irgend einer Weise helfen, die richtige Entscheidung zu treffen? Glauben Sie, dass das Auftreiben von Geld für Forschungsarbeiten zu diesem Thema ihr in irgend einer Weise helfen würde, diese Entscheidung zu treffen? Wir können natürlich mit Sophie arbeiten, ihr Therapie anbieten. Wir können ihr helfen, ihr Schicksal zu bewältigen, es zu vergeistigen, ihre Wut zu nutzen, denn Wut ist nicht nur negativ. Wir können ihr helfen, über diese Wut hinauszukommen und sie dazu veranlassen, die Kinder so lange zu geniessen, so lange sie sie noch hat. Einige Personen, die aus den Konzentrationslagern herauskamen, haben auch überlebt und sind wunderbare Menschen geworden. Sie haben sehr viel geleistet. Vielleicht können wir Sophie helfen, so eine Frau zu werden.

Sehen wir uns das soziale Umfeld, die Unterstützung, die Beratung an. Wir tun alles, was Sophies innere Kraft stärken kann. Aber diese ganze Diskussion ist fast obszön. Es ist unangebracht, es ist einfach nicht richtig. Denn Sophie kann unter diesen Umständen nicht geholfen werden. Die einzige Art und Weise ihr zu helfen, wäre, ihre Folterknechte zu beseitigen. Sonst kann ihr Problem nicht gelöst werden. Es ist auf der Ebene des Individuums moralisch nicht zu lösen. Das ist vielleicht ein extremes Beispiel, aber ich möchte gerne, dass Sie mein Argument verstehen.

Es gibt sehr viele Situationen, in denen man den Menschen Information anbietet, die mehr oder weniger vollständig und richtig ist. Und man erwartet dann, dass sie eine Entscheidung treffen. Es gibt viele dieser Situationen, wo mehr Kommunikation, mehr Information, mehr Aufmerksamkeit, mehr Interesse für das Individuum zwar hilfreich sind, aber nicht ausreichen. Drei Beispiele aus diesem Wochenende möchte ich dazu anführen:
1. Beispiel: Gibt es eine Brustkrebs-Epidemie? Wahrscheinlich doch nicht in dem Ausmass, wie wir uns das vorstellen. Es ist eine diagnostische Epidemie, das ist richtig. Aber man könnte eine Krebs-Landkarte des Planeten erstellen. Man könnte die Erde zeichnen, und dann die Krebshäufigkeit eintragen. Und man würde feststellen, dass es Regionen auf der Welt gibt, wo Krebserkrankungen häufiger auftreten als anderswo. Diese Unterschiede können nicht auf der Ebene des Individuums wegerklärt werden. Auch nicht genetische Tendenzen oder sonst irgend etwas kann Brustkrebs erklären. Nichts, was man anführen könnte, würde die unterschiedliche Häufigkeit von Brustkrebs weltweit erklären können.
2. Beispiel: Ich glaube überall auf der Welt, nicht nur in den Vereinigten Staaten, wird niedriges Geburtsgewicht durch Armut hervorgerufen. Das ist der Hauptgrund. Es gibt noch andere Gründe, aber die Hauptursache ist Armut. Wie wir gesehen haben, war es immer eine arme Familie, eine ethnische Minderheitsfamilie, eine junge Familie. Ich weiss, dass die sogenannte Känguruh-Versorgung sehr wichtig ist. Es ist wirklich sehr wichtig und elementar. Ich bewundere, schätze und begrüsse es. Es ist eine grossartige Sache. Aber, noch besser wäre es, die Armut zu beseitigen, welche die Ursache dieses Syndroms ist. Und das kann nicht auf der Ebene des Individuums getan werden.
3. Beispiel: Wir haben zu Beginn dieses Symposiums von kosmetischen Brustoperationen, insbesondere Implantaten zur Vergrösserung der Brust gehört. Die meisten Interventionen werden aber zum Liften oder zum Verkleinern der Brust durchgeführt. Also eine rein ästhetische Sache. Und auch die Hormontherapie wird oft darum in Anspruch genommen, um sozusagen für immer jung zu bleiben. Wenn man nun die gesamten, heute vorhandenen Methoden ansieht, um den Frauen zu ermöglichen, jung zu bleiben, und wenn man über die Sicherheit und Wirksamkeit dieser invasiven Verfahren sprechen will, dann sollte man auch über die Gründe sprechen, welche die Frauen veranlassen, so etwas zu tun. Weil sie nicht altern wollen. Sie haben Angst vor dem Altern. Und sie haben gute Gründe, sich vor dem Altwerden zu fürchten. Die Welt ist nun 'mal so, dass sie die meisten dazu veranlasst, jung bleiben zu wollen und möglichst lange leben zu wollen. Wir brauchen also ein ganz anderes Modell.

Nicht nur den Sucher nach Wahrheit oder den aufgeklärten Verbraucher. Sondern wir brauchen politisch aktive und sozial involvierte, die Welt verändernde Individuen und nicht den Sucher nach Wahrheit. Wir brauchen die Frau, die aktiv ist, die in der Gemeinde mithilft, sich um andere kümmert, andere betreut.
 

Information, die keine Hilfe ist

Ich beschäftige mich mit dem Bereich der pränatalen Diagnostik. Und das ist der Bereich in der medizinischen Technologie, wo mehr und vor allem mehr richtige, detaillierte und verständlichere Information am notwendigsten ist, aber am meisten fehlt. Ich möchte nur ganz kurz über meine Arbeit sprechen, die mich zu meiner Auffassung geführt hat. Wenn man die pränatale Diagnostik verbessert, wenn man all die gefährlichen Technologien ausschaltet, invasive Technologien vermeidet, Amniozentese nicht anwendet oder ungeklärte Risiken nicht auf sich nimmt, dann hat jede Frau einen guten Vorwand, diese Dinge nicht in Anspruch zu nehmen, weil sie sagen kann: Diese Dinge sind riskant, ich will sie nicht in Anspruch nehmen. Wenn man die Risiken ausschaltet, haben aber auch viele Frauen einen Vorwand, die eigentlich dieses Risiko auf sich nehmen sollten, um vielleicht Probleme zu vermeiden. Denn das ist dann sozusagen der letzte Strohhalm, den die Frauen haben. Sie können sagen: Gut, ich würde den Test ja machen, aber ich fürchte das Risiko. Das will ich nicht.

Wenn man all die Kritiken, die in Bezug auf die pränatale Diagnostik geäussert wurden - und es ist eine sich ständig weiterentwickelnde Technik, wo Risiken vermehrt ausgeschaltet werden - akzeptieren würde und es uns wirklich gelingen würde, das Risiko auszuschalten, dann würden unsere Schwierigkeiten erst beginnen. Denn mit dieser verbesserten Technologie ist es vorläufig so, dass die Dinge schlechter werden. Denn wie haben wir diese Technologie benutzt? Wir verbreiten ein Übermass an Information, wir informieren zu viel. Wir sagen alle möglichen Dinge, die wir eigentlich nicht wissen können, über das kommende Leben dieses Kindes aus. Vielleicht wird es nicht richtig laufen oder nicht richtig denken können. Das ist aber alles irgendwie erraten, eine Vermutung. Man versucht Vorhersagen zu machen über ein künftiges Leben einer Person in einem Umfeld, über das man gar nichts sagen kann, weil man die zukünftigen Entwicklungen wirklich nicht absehen kann.

Genforschung zum Beispiel: Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass wenn man ein bestimmtes Gen hat, man sicher sein kann, dass man Brustkrebs bekommt. Man kann nur wissen, dass man vielleicht ein grössers Risiko hat, an Brustkrebs zu erkranken, einen Infarkt zu erleiden oder sonst etwas. Aber eine Voraussetzung ist ja, dass eine Interaktion mit dem Umfeld besteht, um so etwas dann auch wirklich auszulösen.

Das erinnert mich an Dornröschen. Dornröschen wird also von dieser einen bösen Fee verflucht. Es wird ihr vorhergesagt, dass sie sich in den Finger stechen wird und darauf in einen ewigen Schlaf fallen wird. Ihre Eltern können sie vor diesem Fluch auch nicht retten. Aber sie sind immerhin ziemlich mächtig, sie sind ja schliesslich König und Königin. Sie tun deshalb alles, um sämtliche Nadeln aus dem Königreich zu beseitigen. Aber eine übersehen sie trotzdem, und schliesslich sticht sich Dornröschen doch und fällt in einen Schlaf. Ist sie nun in diesen Schlaf gefallen wegen des Fluches der Fee, oder weil ihre Eltern nicht gründlich genug vorgegangen sind? Wer hat also die Verantwortung, die böse Fee oder die Eltern?

Wir entwickeln Technologien, die den Menschen enorm viel Information liefern, mit erstaunlich wenig Kontrolle. Die meisten von uns haben noch viel weniger Kontrolle über die Umwelt, in der unsere Kinder aufwachsen, arbeiten, leben werden. Wir sagen den Menschen, dass ein Kind, das sie erwarten, in einer Art und Weise zur Welt kommen wird, wie es die Welt nicht will. Ein Kind, das die Welt vielleicht ablehnen wird, an dem sie kein Interesse hat. Und daher würde das Kind es sehr schwer haben, weil ihm die Welt auch nicht helfen würde.
 

Beispiel pränatale Diagnostik

Ich möchte aus einigen Interviews, die ich mit Frauen geführt habe, vorlesen. Elizabeth war eine Frau, die mit Hilfe von klinischer Technologie informiert und vor eine Wahlmöglichkeit gestellt wurde. Man sagte ihr, dass der Fötus in ihrem Leib behindert sein. (Man sollte wohl eher sagen, die Frau trägt ein Kind unter dem Herzen, anstatt ein Fötus im Leib.) Der Schwangerschaftsabbruch, mit dem sie konfrontiert ist, ist nicht eine Abtreibung, um nicht mehr schwanger zu sein, damit die Frau zu ihrem «normalen» Zustand zurückkehren kann. Sondern die Frau tötet unter diesen Umständen ein ganz bestimmtes Kind, weil das Leben dieses Kindes es nicht wert wäre, gelebt zu werden. Elizabeth sagte, dass sie die Amniozentese durchführen liess, weil es nicht nett gewesen wäre, ein behindertes Kind in die Welt zu setzen. Sie sagte, das wäre zu traurig. Sie tat es also aus Liebe zu ihrem Kind, aus Rücksicht, um nett zu ihm zu sein. Aber als sie sich das dann überlegt hatte, sagte sie: «Ich frage mich aber jetzt, ist es richtig, dass es nicht nett ist, ein Kind mit Down-Syndrom in die Welt zu setzen? Ist es nicht auch etwas wert, ein krankes Kind aufzuziehen und für es zu sorgen? Ist es wirklich freundlicher, das Kind umgebracht zu haben?» Diese Frau brauchte also mehr Information. Sie wollte wissen, ob es wirklich nicht nett war oder falsch war, dieses Kind nicht auf die Welt gebracht zu haben, ob sie eine falsche Wahl getroffen hatte.
Barol stand vor derselben Situation. Auch sie bekam die Diagnose Down-Syndrom. Sie war aber sehr gut informiert. Sie hatte studiert und 13 Jahre in der Forschung gearbeitet. Barol sagte nun: «Wie ironisch, eine Schwangerschaft abzubrechen, für die ich eigentlich bereit war.» Barol hatte sich also entschlossen, diese Schwangerschaft abzubrechen. Sie tat es nicht aus Angst oder ähnlichen Motiven. Nein. Sie wusste auch Bescheid über die Folgen dieser Krankheit. Sie wusste auch etwas über die Welt, in die dieses Kind hineingeboren würde. Aber sie sagte: «Wenn die gesamte Gesellschaft und die Familie die Begeisterung mit mir geteilt hätte, dann hätte ich diese Entscheidung nicht getroffen. Wenn es nur um mich gegangen wäre, hätte ich dieses Kind zur Welt gebracht. Aber es wäre eine Belastung für den Rest der Familie gewesen. Und diese Belastung würde das Kind dann spüren. Und das war einfach zuviel.» Sie wusste also, wie die amerikanische Gesellschaft auf ein solches Kind reagieren würde. Sie tat dies, weil sie über diese Informationen verfügte.

Wollen die Frauen mehr Information? Hilft es den Frauen? Deborah war eine Frau, die wirklich nur sehr unzulängliche Informationen bekam. Die ersten beiden Frauen wussten relativ viel über das Down-Syndrom, aber diese dritte Frau wusste nichts darüber. Deborah liess eine Amniozentese machen, weil alle das taten. Sie war 35 Jahre alt und wollte das tun, was man eben so tut. Sie erhielt die Diagnose, dass das Kind ein zusätzliches Chromosom hatte, also eine Anomalie aufwies. Sie fühlte dann plötzlich eine Ablehnung diesem Kind gegenüber und hat irgendwie versucht, die Flucht vor dem Kind, das sie in sich trug, zu ergreifen. Sie wusste nicht, ob sie mit dieser Tatsache fertig werden würde. Man riet ihr auch, nichts von dieser Diagnose zu sagen, weil die Gesellschaft sie vermutlich sofort in eine Aussenseiterposition drängen würde. Deborah begann nun, sich zu informieren. Sie las. Sie hat wirklich zwei Wochen lang ernsthaft alles gelesen, was sie bekam. Und sie sagte: «Es gibt darüber sehr wenig Literatur. Wir haben eine Technologie, die uns sagen kann, was falsch gelaufen ist, aber nicht, wie wir damit fertig werden. Sie geben auch alle möglichen verschiedenen Antworten.» Nach einem weiteren Test eröffnete man ihr mit, dass ihr Kind eventuell unfruchtbar sein würde. Das hat sie wieder traurig gemacht. Was für ein Verhältnis hat die Mutter dann zu ihrem Kind, wenn sie weiss, dass dieses Kind unfruchtbar sein wird? Man sagte ihr auch, dass ihr Kind wahrscheinlich geistig behindert sein würde und möglicherweise an Schizophrenie erkranken würde. Und das war vermutlich wirklich eine sehr lausige Information. Wahrscheinlich waren es falsche oder unzulängliche Informationen. Und schliesslich sagte Deborah, dass sie damit nicht fertig würde und nicht in der Lage war, für dieses Kind eine Mutter zu sein. Diese Information hat ihr so sehr geschadet, dass sie schliesslich bereit war, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie sagte: «Ich hätte früher nie gedacht, dass ich je so etwas tun würde. Es wird mich mein Leben lang belasten. Es ist nicht ein Schuldgefühl, aber ich weiss nicht, ob es richtig oder falsch war, was ich getan habe. Es war einfach das, was ich zu tun hatte. Es ist mir so passiert.» Deborah tat also, was sie tun musste. Sie wies also ein nicht perfektes Kind ab, und sie fühlte sich deshalb schlecht. Wenn eine Frau eine Schwangerschaft abbricht aus Gründen, welche andere Leute nicht gutheissen, dann wird sie als eine Frau angesehen, die ihr unvollkommenes Baby ablehnt. Eine Frau, die ihr Kind aus Gefühlen zurückweist, dass dieses Kind nicht gut genug ist für sie. Deborah selber hat nie so etwas gesagt. Deborah sagte nur, dass sie nicht in der Lage war, eine Mutter für ein behindertes Kind zu sein. Wenn ich dies erfunden hätte, wäre es perfekt. Aber ich habe es nicht erfunden. Es ist eine wahre Geschichte. Deborah wurde wieder schwanger und liess wieder eine Amniozentese machen. Diese wurde aber nur in einer Fruchtblase durchgeführt, sie erwartete aber Zwillinge. Die Information konnten sie ihr also nur zu dem einen von den beiden Babys geben. Was war ihre Reaktion? Sie sagte: «Ich war so erleichtert, dass ich nicht mehr vor diese Wahl gestellt war. Ich hatte keine Angst, brauchte keine Kontrollen, ich konnte nichts mehr tun. Und ich tue jetzt, was ich tun muss. Die Schwangerschaft wird fortgesetzt. Wenn es eine Tochter mit dem Namen Amanda wird, umso besser. Aber jedenfalls habe ich mich dazu entschlossen, dieses Kind aufzuziehen. Und selbst wenn es krank wäre, würde ich es aufziehen. Denn mir wird nichts anderes gesagt. Und ich kann erwarten, dass alles gut geht.»

In jedem Fall akzeptieren wir unsere Kinder in ein Leben, das Probleme bringen wird, das vielleicht Fürchterliches bringen wird. Wir tun das Beste, um ihnen zu helfen. Wenn man die Information rechtzeitig geben und sagen würde, «Ihr Kind wird dies und dies in seinem Leben erleiden müssen, wollen Sie es zur Welt bringen?», wären nicht viele Menschen in der Lage, so etwas bewusst zu entscheiden. Ist es also richtig, wenn man mehr und bessere und umfassendere Information gibt oder sollte sich nicht vielmehr etwas anderes ändern? Nicht das Wissen des Individuums, nicht die Beratung, die Therapie, die Information, sondern die Welt und das Umfeld, in dem Entscheidungen getroffen werden müssen, müssen sich ändern.
 

Diskussion

Anonyma:
Ich stimme Ihrer Weltanschauung zu. Es gibt Armut, und wenn die Umwelt weiterhin so zerstört wird, dann wird es noch grössere Schwierigkeiten geben und negative Folgen für die Gesundheit der Menschen haben. Sauberes Wasser für Kinder usw. Die Medizin ist ja nur ein Teil der technischen und wirtschaftlichen Struktur dieser Welt. Wir als Ärzte sind Teil dieser Struktur, Teil dieser Machtstruktur. Aber welche Rolle können wir denn spielen, um die Welt zu verbessern? An diesem Symposium haben wir die konventionelle Medizin häufig kritisiert. Das ist ja gut. Aber was können wir denn sonst noch tun, ausser anprangern? Wir haben doch nicht die Kontrolle über alle gesellschaftlichen Entwicklungen.

Barbara Katz Rothman:
Ja, wie und wo beginnt die Revolution? Wie können wir die Welt gerechter gestalten? Ich hoffe nicht, dass Sie darauf von mir eine Antwort erwarten. Ja, das sind wirklich die grossen Fragen. Aber leider kann man diese Fragen nicht im Sinne der Behandlung eines einzelnen Patienten beantworten. Sophie McKinley hat einen Artikel über Epidemiologie geschrieben. Und sie hat den Arzt mit einem Menschen verglichen, der an einer Flussmündung steht. Ein toter Fisch kommt den Fluss hinunter, und er nimmt ihn raus und wirft ihn weg. Ein Fisch nach dem anderen wird angeschwemmt und ist tot. Und der Arzt holt sie alle raus und versucht, den Fluss gesund zu halten. Aber irgendwo kommt doch ein Punkt, wo man sich überlegt, wie man die Quelle und nicht nur die Mündung wieder gesund machen kann.

Anonymus:
Ja, ich glaube wir haben vor einigen Tagen beim Abendessen darüber gesprochen. Ich fürchte aber, dass Sie zu sehr an die Quelle vorstossen wollen. Sie projizieren eigentlich alles, den Ursprung der Probleme auf den einzelnen. Ich weiss, es gibt sicher eine Menge Möglichkeiten, wo der einzelne etwas tun kann. Wenn z.B. jemand 40 Zigaretten pro Tag raucht und man ihm sagt, er soll aufhören, hat er dann die Wahl aufzuhören? Ja sicher, der einzelne ist der einzige, der die Wahl treffen kann. Aber wir müssen auch auf der gesellschaftlichen Ebene arbeiten.

Barbara Katz Rothman:
Das stimmt. Ich bin ja nicht gegen die Information. Ich bin auch nicht gegen die sozialen Strukturen und die Unterstützung durch die Gesellschaft. Wenn sich in den Vereinigten Staaten eine Werbekampagne an eine bestimmte Bevölkerungsgruppe richtet, z.B. junge asiatische Frauen, um etwa das Rauchen zu forcieren, dann kann man das dort tatsächlich als Steuerabzug deklarieren. Aber dann muss die Gesellschaft auch mit den Steuergeldern für die Gesundheitsfolgen fertig werden. Wir können da nicht mehr einfach als Ausrede sagen, dass jede Frau für ihre eigenen Entscheidungen verantwortlich ist. Nein, da wird die Sache ad absurdum geführt.

Anonymus:
Ich möchte hier nochmals auf Sophie's Wahl zurückkommen. Vielleicht liege ich da falsch. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen, dass es nicht sehr sinnvoll und hilfreich ist, Menschen, die sich in einer kritischen Situation befinden oder im Falle des Todes eines Kindes, eine Wahl anzubieten. Aber wenn jemand die Diagnose einer Krankheit bekommt, gegen die man gar nichts tun kann und die Prognosen sehr schlecht sind, wäre es nicht gerecht, ihm keine Wahlmöglichkeit zu geben.

Barbara Katz Rothman:
Nun, bei Sophie's Wahl ist es doch so, dass man ihr die Information geben muss, welches Kind die besseren Überlebenschancen hat. Aber es gibt ja noch andere Fragen, die wir nicht beantworten können. Das heisst nicht, dass wir jetzt alle die Bedeutung der Information in Frage stellen müssen. Denken wir beispielsweise mal an die Brustimplantate. Auch dort ist die Debatte ja sehr hitzig. Viele dieser Probleme könnten wir aber sozial - sozial nicht medizinisch - wirklich sehr leicht in Ordnung bringen. Ich sage ja nicht, dass wir niemandem die Wahl anbieten, keine Information anbieten, keine weiteren Untersuchungen durchführen sollen. Nein, das sage ich nicht. Aber was ich versucht habe zu erklären ist, dass wir eigentlich völlig vergessen haben, vor welchem Hintergrund wir eigentlich arbeiten und in welchem Kontext diese Prozesse ablaufen.

Anonymus:
Ich bin froh über dieses letzte Referat. Denn so gut die Vorträge in ihrer Gesamtschau für mich waren, um wesentliche Teile der Medizin von einer anderen Seite zu betrachten, sind doch die Vorschläge, was zu tun sei, etwas zu bescheiden ausgefallen. Ausgehend von dem Vorschlag, sich auf sich selbst zu besinnen und bei sich selbst Ordnung zu schaffen, so wie das der Zen-Praktiker getan hat, der aber sicherlich auch anderes tut. Er ist ja Manager-Berater. Und ich habe ihn nicht gefragt, welche Manager er berät. Im schlimmsten Fall würde er Manager der Rüstungsindustrie oder der Chemischen Industrie beraten, die nun «zu sich kommen». Ich will da auch nicht zu weit gehen mit einem unbegründeten Vorwurf. Aber er berät ja genau die Träger eines System, das wir in seinen Auswirkungen als zumindest schädlich für unser Medizinsystem erfahren haben. Und die Vorschläge, was nun zu tun sei, sind etwas zu kurz gekommen. Zu kurz gekommen, weil die Ebene der Intervention freigestellt war. Das heisst, es ist vielleicht wirklich zu verschieden, wo wir alle tätig sind, und was wir nun zu tun hätten, und was alles getan werden kann. Der eine macht so, der andere so. Aber der Hauptkonsens von der Rednern war ja, dass wir mit uns selbst in reine kommen müssen und wir uns, jeder für sich, verweigern müssen. Ich denke, dass in Bezug auf die Ebene der Interventionen hier ein bisschen zu wenig gelaufen ist. Sie, Herr Dr. Schmidt, haben das Glück oder den nötigen Sachverstand und die Erfahrung mitgebracht, Sie sind Berater der Regierung. Das ehrt Sie und es ist schön, dass Sie da auch Erfolg haben. Aber ich bin kein Berater der Regierung. Ich bin da nicht so weit gekommen, und andere werden auch nicht in dieser Lage sein. Und darum ist diese Frage ein bisschen zu kurz gekommen. Ich kann das jetzt auch nicht in zwei Minuten, die mir verbleiben, beantworten. Aber ich wollte nur sagen, dass das ja zumindest auch ein Vortrag oder ein Thema wert gewesen wäre. Wie kann sich dieser neugewonnene medizinische Sachverstand umsetzen, ausser in einer Erklärung an sich selbst, um dann zur inneren Ruhe zu finden?

Johannes G. Schmidt:
Es ist für mich klar, dass beide Wege gehen. Aber es geht nicht jeder Weg zu jeder Zeit. Wenn ich ein Bundesamt berate, kommt das nicht, weil ich Krieg gegen die geführt hätte. Ich benütze ganz bewusst dieses Wort, weil es mir auch ein bisschen eine amerikanische Mode zu sein scheint, Krieg zu machen. Krieg gegen Feinde, Krieg gegen AIDS, Krieg gegen Drogen. Und vielleicht auch zu sehr Krieg gegen soziale Umstände, die uns daran hindern, weiterzukommen. Wenn wir aber genügend Menschen sind, die die Verantwortung zusammen wahrnehmen und gemeinsam irgendwo auch etwas ändern, beispielsweise auch über die Politik, dann sollten wir das tun. Wenn wir aber sehen, dass dieser Weg im Moment nicht geht, dann müssen wir anfangen, nichts zu tun, und nur nachdenken und zusehen, wie wir an die Sache 'rankommen. Ich möchte damit nur sagen, dass ich nie der Meinung gewesen bin und auch jetzt nicht der Meinung bin, dass es nur einen Weg gibt. Aber es ist ganz wichtig, dass man immer wieder kritisch überprüft, ob der gewählte Weg funktioniert oder funktioniert hat.

Anonymus:
Ich wollte Frau Prof. Katz nur sagen, wie gut es war, hier herauszustellen, dass man mit den Resultaten der Amniozentese nur sehr schwer fertig wird. Es ist fast unmöglich, mit diesen Befunden zu leben.
 
zum Anfang

Layout: Datadiwan eMail: webmeister@datadiwan.de