Frauen - willige Opfer der Medizin?
Früherkennung, Hormone, Geburtsmedizin auf dem Prüfstand kritischer Wissenschaft
- Wege zu einer zeitgemässen Praxis
Autor: Marsden Wagner
Keywords: Frauenheilkunde, evidence based medizine, klinische Forschung, Medizinkritik, Patienteninformation, Evaluation, Schwangerschaftsvorsorge, Geburt, Geburtsshilfe
Abstract:
Copyright: Texte: Stiftung PARACELSUS HEUTE
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Autoren
Begrüßungen
Die alternde Frau
Die schwarze Madonna/Theater
Die schwangere Frau

Ottilia Grubenmann,
Hebammen im Wandel der Zeiten - 58 Jahre Hebamme
Dr. Marina Marcovich,
Medizin und Mutternähe in der Betreuung von Neugeborenen - Wieso glauben wir an die Überlegenheit der medizinischen Technik?
Dr. Ruth Baumann-Hölzle
Was ist lebenswert? - Schicksals-Ergebenheit und Macher-Sein im lebendigen Austausch
Norma M. Swenson, M.P.H.
Hebammen, die moderne Medizin und die Reform der Geburtshilfe - Die Rolle der Frauenbefreiung
Dr. Johannes G. Schmidt,
Was ist "normal" in der Schwangerschaft? - Der Routine-Ultraschall als Spielzeug für Surrogat-Diagnosen und falsch positive Befunde
Prof. Murray W. Enkin,
Wirksame Massnahmen in Schwangerschaft und Geburt - Hält sich die Praxis an dieses Wissen?
Dr. Marsden Wagner,
Wieviel Technik ist gut für die Schwangerschafts-Vorsorge? - Die Rolle sozialer Faktoren
Dagmar Ehling,
Schwangerschaft und Geburt im Lichte der traditionellen chinesischen Medizin - Woraus könnte Schwangerschafts-Vorsorge bestehen?
Die krebsgefährdete Frau
Moderne Medizin

Wieviel Technik ist gut für die Schwangerschafts-Vorsorge? - Die Rolle sozialer Faktoren

(Original-Titel des englischen Vortrags: The search for appropriate perinatal technology - The need to take non-clinical issues into consideration)

Dr. Marsden Wagner
Copenhagen/Denmark

Ich werde über Schwangerschafts-Vorsorge sprechen, und die befindet sich gegenwärtig sicherlich im Chaos. Einer der Gründe, warum sie sich im Chaos befindet, ist, weil ein Kampf stattfindet zwischen zwei verschiedenen Schulen, der medizinischen und der sozialen Schule, zwischen zwei verschiedenen Art und Weisen, die Geburt zu betrachten. Die medizinische Schule sieht die Schwangerschaft als eine Krankheit an und die Geburt als einen chirurgischen Eingriff. Ein ursprünglich soziales Phänomen wurde stark medikalisiert mit dem Resultat, dass die sozialen Aspekte dieses Phänomens völlig vernachlässigt wurden und wir immer mehr Technologie zuliessen. Diese Technologie hat das Übermass, und wir nehmen immer mehr Zuflucht zu dieser technologischen Praxis. In gewisser Weise kann man sagen, dass das medizinische Modell ein Versuch ist, von einem traditionellen linearen Ansatzpunkt ausgehend den Körper als Maschine zu betrachten. Diese Maschine bzw. dieser Körper kann auch Pannen haben, und der Arzt kommt dann und repariert die Panne oder repariert die ganze Maschine, wenn sie nicht mehr richtig funktioniert. Das ist der medizinische Ansatzpunkt im Gegensatz zum sozialen Ansatzpunkt.

Epiduralblock-Epidemie

Wie können wir die Technologie, die sich in der Schwangerschafts-Vorsorge breit gemacht hat, aufhalten? Ich illustriere das an einem Beispiel, dem Epidural-Block als Form von Schmerzkontrolle während der Wehen. Ich spreche jetzt nicht von Epidural-Injektionen während eines Kaiserschnitts, sondern von Schmerzkontrolle während der normalen Wehen. In den westlichen Ländern ist in zunehmendem Masse eine Art Epidemie ausgebrochen in Bezug auf die Verwendung von Epidural-Blocks. Vor kurzem wurde in Frankreich ein Gesetz angenommen, das besagt, dass jede Frau in Frankreich einen Anspruch auf Epidural-Injektion hat. Getragen wurde dieses Gesetz von der Frauenbewegung in Frankreich, die verlangt hat, einen Anspruch auf diese schmerzstillenden Mittel zu haben, und es wurde den Frauen als sicheres Mittel der Schmerzstillung oder der Schmerzkontrolle während der Geburt verkauft. Ist es nun wirklich ein sicheres Mittel?

Ich möchte zwei hervorragende Schwangerschafts-Wissenschaftler zitieren, die die gesamte Weltliteratur zum Thema Epidural-Block durchgearbeitet haben: «Nachdem in den letzten 20 Jahren Millionen von Frauen den Epidural-Block für Schmerzstillung angeboten bekamen, haben weniger als 600 Frauen auch andere schmerzstillenden Mittel in Anspruch genommen. Die Auswirkungen des Epidural-Blocks während der Wehen sind nur unzureichend bekannt.» Mit anderen Worten, wir wissen nicht, ob die Epidural-Spritze wirklich sicher ist. Wir wissen aber, und das ist wissenschaftlich belegt, dass wenn eine Frau eine
Epidural-Injektion bekommt, eine um das Vierfache höhere Wahrscheinlichkeit einer Zangengeburt besteht. Und das Risiko eines Kaiserschnitts ist mindestens doppelt so hoch, als wenn keine Epidural-Injektion verabreicht worden wäre. Das kann man doch nicht als sicher bezeichnen!

Die Liste der Nebenwirkungen einer Epidural-Injektion ist sehr lang. Und ich spreche über die Risiken, die in der wissenschaftlichen Fachliteratur auch bekannt geworden sind: Fieber, Blutdruckabfall, schwere Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Blasenstörungen, Auswirkungen auf das Neugeborene, usw. Jahr für Jahr sterben auch in Europa Frauen unmittelbar an der Epidural-Injektion. Die Auswirkungen auf das Neugeborene sind viel zu wenig erforscht. Es gibt aber einige Untersuchungen die zeigen, dass es mögliche Risiken gibt für das Kind: Hypoglykämie, beschleunigtes Atmen usw. Vor knapp zwei Monaten hat das American Institute of Obstetrics einen Bericht herausgegeben, der die Überwachung des fötalen Herzschlags zum Thema hatte. Beim Epidural-Block wird darauf hingewiesen, dass bezüglich eines möglichen Risikos eines Blutdruckabfalls eine 5- bis 25-prozentige Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Mutter einen Blutdruckabfall in Kauf nehmen muss. Das bedeutet, dass zwischen 8 und 12% der Föten, die überwacht und überprüft wurden, eine Verlangsamung des Herzschlages aufwiesen. Das heisst also: Die Mutter hat einen Epidural-Block bekommen, ihr Blutdruck sinkt, der Blutfluss in den Uterus wird abgebremst, und das Kind wird nicht hinreichend mit Blut versorgt. Das zeigte sich am Monitor in etwa 10% der Fälle.

Wir haben hier also eine Technologie, über die wir sehr wenig wissen. Eine Technologie, die ganz eindeutig schwerwiegende Risiken für die Mutter und für das Neugeborene beinhaltet. Und trotzdem wird diese Methode dem Publikum als sicher angeboten. Das liegt natürlich zum Teil daran, dass die Epidural-Blocks die Grundlage einer neuen Art von Anästhesie rund um den Geburtsvorgang sind und dass sehr viel Werbung dafür gemacht wird.

Die WHO hat die Weltliteratur zu diesem Thema studiert und ist zum Schluss gekommen: «Während der Geburt ist die Routine-Verwendung von Anästhetika, die nicht spezifisch notwendig sind oder eine Komplikation verhindern sollen, zu vermeiden.» Das ist nur ein Beispiel einer Technologie, die sich in ganz Europa sehr stark verbreitet hat. Viele Krankenhäuser sagen, dass über 50% der Frauen, die zur Geburt ins Krankenhaus kommen, sich eine Epidural-Spritze geben lassen.

Wie entsteht ein solches Phänomen? Wie kann sich eine Technologie so unglaublich stark ausbreiten, ohne wissenschaftliche, wirkliche Hinweise darauf, dass sie
sicher ist? Wenn man diese übertriebene Anwendung der Epidural-Spritze mit Ärzten diskutiert, behandeln diese das Thema vom klinischen Standpunkt aus. Man wird z.B. gefragt, ob man an der Korrektheit ihrer Diagnose zweifelt, etc.
 

Soziale gegenüber rein klinischer Betrachtung

Es gibt aber durchaus sehr viele verborgene Faktoren nicht medizinischer und auch nicht klinischer Art. Faktoren sozialer und gesellschaftlicher Natur. Sie stehen hinter dieser unglaublichen Verbreitung der Epidural-Blocks. Zunächst einmal ist, bei Ärzten sehr weitgehend und auch bei der Bevölkerung, der Glaube sehr weit verbreitet, dass die Technologie Wissenschaft ist und daher Fortschritt darstelle. Das bedeutet, dass man also wirklich an vorderster Front steht, wenn man sie nutzt. Ich war vor kurzem in China und bin da in die Mitte des Landes hinausgewandert. Das erste, was man mir da in einem Krankenhaus gezeigt hat, war ein Apparat. Das bedeutet, man ist modern. In Wirklichkeit ist die Technologie aber keine Wissenschaft. Wissenschaft ist eine Methode, Technologie ist keine Methode. Technologie ist nicht gleich Wissenschaft. Die Technologie kann, muss aber nicht Fortschritt bedeuten. Ich bin heute Morgen mit dem Flugzeug angekommen und muss sagen, dass die Benutzung eines Flugzeugs für mich eine progressive Verwendung einer Technologie ist. Natürlich kann man ein Flugzeug auch anderswie verwenden, beispielsweise um Bomben auf unschuldige Kinder und Frauen abzuwerfen. Technologie ist also nicht notwendigerweise Fortschritt. Ich möchte nicht grundsätzlich die Technologie verteufeln, ich spreche nur von der nicht angebrachten Art und Weise der Technologiegläubigkeit. Technologie bedeutet, wie bereits gesagt, nicht notwendigerweise Wissenschaft und auch nicht notwendigerweise Fortschritt. Das ist ein Missverständnis. Ärzte sind auch nicht Wissenschaftler im eigentlichen Sinne. Ich glaube, es ist wichtig, das zu verstehen. Ich habe auch Medizin studiert, bin aber überhaupt nicht in Wissenschaft ausgebildet. Ich musste dann später zwei Jahre zusätzlich studieren, um etwas von Wissenschaft zu verstehen. Der normale klinische oder praktische Arzt weiss eigentlich sehr wenig von Wissenschaft. Es gibt also eine ganze Menge von Missverständnissen, die sich breit machen. Der Arzt wird zu sehr auch beeindruckt von den Verhaltensweisen seiner Kollegen, und er wird auch von der Industrie beeinflusst. Er selbst kann nicht wirklich selbstkritisch beurteilen, ob eine Technologie gut ist oder nicht gut ist.

Ärzte glauben z.B., dass die Verwendung von Technologie die Dinge sicherer macht, dass Technologie sicher ist. Das ist ein echtes Missverständnis. Jedes medizinische Verfahren und jede medizinische Technik hat gewisse Nebenwirkungen und birgt Risiken in sich. Keine Technik ist hundertprozentig sicher. In jedem Fall, in dem Technik eingesetzt wird, besteht eine gewisse Chance, dass die Dinge besser werden. Es besteht aber auch ein gewisses Risiko, dass die Dinge schlechter werden. Wenn die Dinge besser werden, preist man die Wirksamkeit dieser Technik. Wenn es nicht klappt, dann hat es halt nicht geklappt. Man muss aber die Möglichkeiten, dass es besser wird oder schlechter wird, dass es hilft oder schadet, gegeneinander abwägen. Man müsste den Patienten zumindest informieren. Ich sollte nicht von Patienten sprechen, denn ich möchte dies auf die Schwangere beziehen. Die Schwangere ist keine Patientin, sie ist nicht krank. Man kann also der Frau sagen, dass es eine so und so grosse Chance gibt, dass sie von der Anwendung der Technik
profitieren wird. Dass aber auch ein gewisses Risiko besteht, das so und so hoch ist, dass sie darunter leiden wird. Und diese Frau muss dann selbst entscheiden oder sollte entscheiden dürfen, ob sie das genannte Risiko auf sich nehmen will. Es ist unlauter, der Frau zu sagen: Wollen Sie eine Epidural-Spritze? Sie ist sicher.
 

Schwindender Grenznutzen bedeutet in der Medizin Netto-Schaden

Was die Sicherheit angeht und die jeweiligen Chancen oder Risiken, verstehen viele Ärzte einen wesentlichen wissenschaftlichen Grundsatz nicht, nämlich: Wenn man eine bestimmte Technologie anwendet und die Indikationen dafür ausdehnt, so dass man sie bei immer mehr Patienten anwendet, dann gehen die Chancen, dass dies von Nutzen ist, zurück. Das eigentliche Risiko, dass es fehlschlägt oder schadet, bleibt gleich hoch. Die Möglichkeit, dass es einen positiven Effekt hat, werden also umso geringer, je mehr diese Technologie angewandt wird. Deswegen kann man diese Dinge nicht einfach routinemässig anwenden. In den meisten Fällen verringern sich dann die Vorteile, aber die Risiken bleiben gleich hoch. Das bedeutet, je mehr man eine Technologie anwendet, desto mehr Einzelfällen kann man vielleicht helfen. Aber in wesentlich mehr Fällen wird man nicht helfen können. Man wird dadurch vielleicht sogar mehr Personen schaden.

Der Kaiserschnitt z.B. ist in 5 bis 10% der Fälle sicherlich angebracht, um das Leben der Frau oder das Leben des Neugeborenen zu retten. Wenn er aber in 40% der Fälle angewandt wird, dann werden zwar nach wie vor noch ein paar Mütter und ein paar Kinder gerettet. Bei einem Kaiserschnitt ist die Mortalität im Kindbett aber viermal so hoch wie bei einer normalen Geburt. Deshalb kann diese Methode nicht einfach unbesehen angewandt werden. Bei einem Kaiserschnitt sind immer auch Risiken für das Neugeborene mitenthalten, und diese Risiken werden mit dem Kaiserschnitt für das Kind erhöht. Wenn man also den Kaiserschnitt immer öfter anwendet, dann wird man eines Tages tatsächlich einige Mütter und einige Kinder töten, während wenige Fälle noch gerettet werden. Und deshalb ist es so wichtig, bei der Anwendung irgend einer dieser Technologien zurückhaltend, sehr sehr zurückhaltend und vorsichtig zu sein.

Ein weiterer Grund für die zunehmende Verwendung von Technologie ist der sogenannte Kaskaden-Effekt, wie ich es nenne. Alles, was ich heute Abend vortrage, ist in meinem Buch Persuing the Birth Machine [1] noch viel detaillierter enthalten. Der sog. Kaskaden-Effekt: Man verwendet eine Technologie und dies führt zur Verwendung einer weiteren Technologie, und dies wiederum führt zur Verwendung einer weiteren Technologie usw. Es geht also nicht um Ursache und Wirkung, sondern um eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass die nachfolgenden Technologien dann ebenfalls zur Anwendung kommen. Man könnte das auch den Schneeballeffekt nennen. Eines führt zum anderen.
 

Geld bestimmt die Praxis

Noch etwas möchte ich im Zusammenhang mit der Verwendung von Technologie erwähnen, nämlich das Geld. Das Geld spielt bei der Schwangeren-Untersuchung und Schwangeren-Vorsorge sicherlich mit eine Rolle. Ein WHO-Bericht stützt sich auf Untersuchungen, die folgendes zeigen: In den Vereinigten Staaten
z.B. ist es so, dass je mehr Geld man hat, umso grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass in der Schwangerschafts-Vorsorge alle möglichen Techniken angewandt werden. Private Hospitäler entbinden wesentlich häufiger mit Kaiserschnitt, als staatliche Krankenhäuser, wo auch arme Leute hingehen. Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Denn arme Leute haben einen schlechteren Gesundheitszustand, und deshalb ist das Risiko von Schwangerschaftskomplikationen grösser. Daher sollte da eigentlich die Rate der Kaiserschnitte höher sein. In den Vereinigten Staaten ist es aber so, dass reiche Leute in privaten Kliniken wesentlich häufiger den Kaiserschnitt in Anspruch nehmen. Es gibt natürlich weitere Beispiele dieser Art.

Wenn sich der Arzt eine Ultraschall-Maschine anschafft und darin investiert hat, will er diese Maschine natürlich auch möglichst oft anwenden, um sie zu amortisieren. Wenn ein Krankenhaus eine solche Maschine kauft, will es sie natürlich auch einsetzen, damit es rendiert. Geld hat also sicherlich etwas damit zu tun.

Des weiteren tragen auch Kunstfehler-Prozesse in den Vereinigten Staaten sehr stark zur Technologisierung bei. Im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten wurden in dem Zusammenhang Erhebungen bei Ärzten durchgeführt. Sie zeigten, dass die Angst vor einem Gerichtsverfahren als Hauptgrund oder Hauptvorwand genannt wurde, solche Technologien anzuwenden. Warum sagen es die Ärzte dann nicht? Sie könnten ja sagen: Ja, ich habe Angst, dass mein Patient mir ein Verfahren anhängt, deshalb greife ich auf die Technologie zurück. Ein Arzt, der so etwas sagen würde, würde damit aber sagen, dass er bereit wäre, Ihren Bauch mit einem Skalpell aufzuschneiden, weil er Angst davor hat, vor Gericht zitiert zu werden. Er tut es aber nicht, denn er will kein Gerichtsverfahren haben. Also macht er nicht das, was er eigentlich tun möchte. Jetzt ist es also beinahe so, dass sozusagen die Ärzte die Opfer dieser Situation sind. In Zeiten aber, in denen die Gerichtsverfahren immer stärker zunahmen, nahmen komischerweise auch die Eingriffe zu. Es lag also nicht an der Technologie oder die Technologie hat den Ärzten nicht geholfen, Gerichtsfälle zu vermeiden. Also stimmen die von ihnen immer angeführten Argumente nicht. Und wenn sie das einsehen, müssten die Ärzte doch eigentlich auch zugeben, dass dies nicht der wirkliche Grund war, warum sie sich hinter diesem Argument verschanzt haben. Es ist also ein falsches Argument, das die Ärzte angeführt haben und heute noch anführen.

Ein weiterer sozialer Faktor hinter dem Einsatz von Technologie in der Medizin sind kommerzielle Interessen. Ich kann dazu eine Geschichte erzählen: Vor einigen Jahren, als ich bei der WHO tätig war, sprach uns eine Organisation mit der Bezeichnung FIGO, ein Verband von Geburtshelfern, an. Dieser Verband organisierte eine Konferenz in Zürich und hat versucht, Empfehlungen für die Verwendung eines elektronischen Monitors auszuarbeiten. Und WHO sollte diese Konferenz patronieren. Wir haben uns bereit erklärt, an dieser Konferenz teilzunehmen. Um überhaupt in die Versammlung hineinzukommen, mussten wir zuerst durch eine andere Halle gehen, wo all die Monitoren von den Herstellerfirmen ausgestellt waren. Das war natürlich interessant. Des weiteren haben wir dann festgestellt, dass die Flugtickets und Hotelkosten für sämtliche Konferenzteilnehmer von den Firmen bezahlt wurden, die dort ihre Maschinen ausgestellt hatten. Es war eine sehr schwierig Konferenz, denn die Veranstalter wollten durchbringen, dass diese Monitoren bei allen Frauen während der Wehen eingesetzt werden sollten. Es war
also eine Art Werbeveranstaltung. Ein Konsens hat sich aber bei dieser Konferenz nicht abgezeichnet. Wir sind also wieder auseinandergegangen. Einen Monat später erhielt die WHO ein Schreiben von dem FEGO-Veranstalter mit den Empfehlungen, die ausgearbeitet worden seien: «... und wenn wir keinen Einwand von Ihnen hören, gehen wir davon aus, dass Sie einverstanden sind, und dann werden diese Empfehlungen als gemeinsame Empfehlungen von WHO und FEGO veröffentlicht.» Die gesetzte Einsprachefrist war bereits um einen Tag abgelaufen. Und eine dieser Empfehlungen besagte eben, dass dieser Monitor bei Frauen in den Wehen angewandt werden sollte. Wir mussten also telefonisch Einspruch erheben, um das zu verhindern. Als wir den Organisatoren sagten, dass hier ein Interessenskonflikt bestand, meinten sie, dass dies nicht der Fall sei.

Ich möchte noch einen sozialen Faktor erwähnen, der hinter diesen Technologien steht. Und das ist einfach Bequemlichkeit und Gewohnheit. Untersuchungen in verschiedenen Ländern haben gezeigt, dass z.B. der Kaiserschnitt von montags bis freitags viel häufiger vorkommt als an Samstagen und Sonntagen. Und zwar statistisch signifikant häufiger. Ein Teil der Kaiserschnitte sind natürlich geplante Kaiserschnitte. Und es ist natürlich möglich, solche indizierten Kaiserschnitte für einen bestimmten Tag, eine bestimmte Zeit zu planen. Aber auch die Notfall-Kaiserschnitte kommen hauptsächlich von Montag bis Freitag vor. Und das ist schwerer zu erklären. Ein Kaiserschnitt dauert etwa 20 Minuten. Verglichen mit 12-stündigen Wehen ist es also wirklich bequemer, einen Kaiserschnitt vorzunehmen. Es gibt auch noch andere Beispiele, um diese Aussage zu erhärten. Es sind also alles soziale und gesellschaftliche Faktoren, die die Verwendung von Technologien sehr stark beeinflussen.
 

Auswege

Welches sind nun mögliche Lösungen? Wie sollten wir uns verhalten? Ich glaube, die allgemeine Lösung würde darin liegen, dass das soziale Modell, die soziale Schule sich durchsetzen sollte, die soziale Art und Weise, die Geburt zu sehen. Jetzt haben wir eine Situation, die stark medikalisiert ist, wo soziale Ansichten sehr wenig zum Tragen kommen. Wir sollten eher die sozialen Aspekte, die soziale Bedeutung der Geburt hervorheben und verstärkt wieder sehen. Wenn man das bewusst tut oder um das bewusst zu tun, gibt es zwei Möglichkeiten: Zunächst einmal sollten wir die Wissenschaft dazu einsetzen, dem sozialen Modell zum Durchbruch zu verhelfen. In meinem Buch habe ich dafür sehr viele Beispiele genannt, einige davon sind: Jedermann macht sich Sorgen um die Mortalität während der Geburt. Niemand will also ein totgeborenes Kind. Welches sind in unseren Ländern, in den zivilisierten, entwickelten Ländern die ursächlichen Faktoren für Kindestod? Es ist geringes Geburtsgewicht. Was können wir tun, um dem abzuhelfen? Es gibt sicher nicht nur eine einzige Möglichkeit oder eine einzige Methode, um dem Abhilfe zu verschaffen. Aber es gibt einige wissenschaftlich bewiesene, funktionierende soziale Massnahmen, um einen Einfluss auf das Geburtsgewicht auszuüben. Z.B. das Vermeiden von Alkohol und Rauchen. Wenn die Frau während der Schwangerschaft nicht raucht und keinen Alkohol trinkt, sind die Chancen sehr hoch, dass das Kind ein besseres Geburtsgewicht hat. Auch soziale Unterstützung, Begleitung der Schwangeren trägt dazu bei, das Geburtsgewicht des Kindes zu verbessern.

Ursprünglich hätte Ann Oakly aus England hier zum Thema Soziale Unterstützung der Schwangeren und deren Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes sprechen sollen. Tatsache ist, dass der Hauptgrund, die Hauptursache für Kindestod bei der Geburt unzureichendes Geburtsgewicht ist. Und wir können etwas dagegen tun. Es gibt viele Beispiele. Die Dula z.B. gehört nicht zum Gesundheitspersonal und kann z.B. eine Hebamme sein. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Hinzuziehung einer Hebamme einen sehr positiven Einfluss auf den Verlauf einer Geburt ausübt. Die Technologie wird automatisch reduziert, die Wehen werden verkürzt, der gesamte Geburtsvorgang wird verbessert durch die Anwesenheit einer Dula, einer Hebamme. Das ist ein weiteres Beispiel für den positiven Einfluss einer sozialen Intervention.

Ich habe ausserdem Erfahrungen mit einem anderen sozialen Phänomen, z.B. der Känguruh-Versorgung, wie ich es nenne, gemacht. Nehmen wir z.B. eine Frühgeburt, ein Kind, das bei der Geburt sehr klein und schwächlich ist. Wenn es aber atmen kann, wenn es saugen kann, dann braucht es nicht den Inkubator, sondern das Kind kann auf der Brust der Mutter liegen verbleiben. Es wird sozusagen in einem Beutel an die Brust der Mutter gebunden, daher der Name Känguruh-Effekt. Und es gibt eine ganze Menge wissenschaftliche und biologische Untersuchungen die zeigen, dass wenn sich das Kind ständig an der Brust der Mutter aufhält, es wesentlich besser leben kann als im Inkubator. Weil es die Mutterwärme hat, den Herzschlag der Mutter spürt. Das Kind entwickelt sich ruhiger, besser, schneller. All dies wurde in wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen. Und trotzdem ist es ungeheuer schwer, dieser Methode zum Durchbruch zu verhelfen, sie durchzusetzen. Es gab von ärztlicher Seite her unglaubliche Widerstände gegen diese Methode. Wir vertrauen der Maschine, dem Inkubator, aber wir trauen nicht der Mutter, um das Kind zu retten. Und selbst die wissenschaftlichen Untersuchungen helfen dann nichts. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie man in sehr wirksamer Weise soziale Phänomene einsetzen kann und wie auch die Wissenschaft hinzugezogen werden kann, um den Nutzen dieser sozialen Interventionen nachzuweisen.

Wir können die Wissenschaft aber noch in anderer Weise nutzen. Wir können sie benutzen, um zu lernen, wie man die Wissenschaft einsetzen kann, um Praktiken und Gewohnheiten zu ändern. Wir wissen sehr wenig darüber, wie man die Ärzte beeinflussen kann, wie man ihre Gepflogenheiten verändern kann. Ein Beispiel aus Kanada: Die Kanadier haben sich grosse Sorgen gemacht, weil der Kaiserschnitt zu oft praktiziert wurde. Und sie wussten das auch. Sie haben also eine «Konsensusgruppe» gebildet. Die besten Leute, all die grossen Köpfe aus Kanada wurden zusammengebracht. Zuerst haben sie die gesamte wissenschaftliche Literatur der Welt durchgearbeitet. Dann haben sie aufgrund dieser Forschungsarbeit eine Reihe von Empfehlungen ausgearbeitet für die Anwendung von Kaiserschnitten, wann sie und wann sie nicht angewendet werden sollten. Diese Empfehlungen wurden dann an alle Geburtshelfer in Kanada verschickt. Ein Jahr später hat man keinerlei Veränderungen in der Statistik der Kaiserschnitte festgestellt. Nun wurde ein Fragebogen an alle Ärzte verschickt. «Haben Sie die Empfehlungen erhalten?» Antwort ja. «Haben Sie sie gelesen?» Jaaa. «Stimmen Sie mit ihnen überein?» Jaa! «Haben sie Ihre Praxis beeinflusst?» Ja, hiess es. Aber die Statistik in Bezug auf Kaiserschnitte ist die gleiche geblieben. Dann experimentierten die Kanadier mit verschiedenen wissenschaftlichen Methoden, um die Kaiserschnittsrate herabzusetzen. Ich habe leider hier nicht die Zeit, Ihnen das im einzelnen darzulegen. Aber es war ein faszinierender Vorgang, eine wissenschaftliche Methode anzuwenden, um zu experimentieren, wie man Veränderungen in der Praxis selbst hervorrufen kann. Sie können das in meinem Buch nachlesen. Wir müssen also auch auf die Wissenschaft zurückgreifen, wenn wir den sozialen Ansatz für die Geburt fördern wollen.

Eine weitere Möglichkeit ist, glaube ich, zu versuchen, den Einfluss des medizinischen Modells zu reduzieren. Das ist natürlich ein sehr schwieriges Unterfangen, denn es würde bedeuten, dass wir versuchen, den Einfluss und die Rolle der Ärzte zu schmälern. Hebammen z.B. gibt es ja seit Jahrtausenden. Und seit Jahrtausenden haben diese Hebammen Geburten geleitet und durchgeführt. Es gab auch sehr seriöse wissenschaftliche Untersuchungen, mit Vergleichsgruppen etc., die gezeigt haben, dass Frauen mit einer normalen Schwangerschaft und Betreuung durch eine Hebamme bei der Geburt wesentlich weniger technologische Interventionen brauchten, als eine entsprechende Kontrollgruppe von Frauen mit normalen Schwangerschaften, die aber während der Geburt von Ärzten betreut wurden. Hebammen arbeiten viel eher nach einem sozialen Ansatz als nach dem medizinischen Modell.

Betrachten wir die gesamten Operationsraten, also Zangengeburten und Kaiserschnitte, in den verschiedenen Ländern. Die drei Länder mit den höchsten Anwendungsraten der genannten Methoden, nämlich Kanada, Australien und die Vereinigten Staaten, haben etwas gemeinsam. Sie haben ein Schwangerschaftsvorsorge-System, wo die ausschliessliche Betreuung, auch bei ganz normalen Schwangerschaften, bei den Gynäkologen liegt. Und das ist in den anderen vier untersuchten Ländern nicht der Fall. Das ist eine Beobachtung. Es hat nichts zu tun mit Ursache und Wirkung. Ich sage damit nicht, dass man daraus definitive Schlüsse ziehen soll, es ist lediglich eine Beobachtung. Aber es stimmt mit dieser wissenschaftlichen Untersuchung überein, die gezeigt hat, dass Hebammen bei normalen Schwangerschaften und normalen Geburten im allgemeinen viel weniger Technologie einsetzen als Ärzte.

Wir sollten uns also vermehrt für den Einsatz von Hebammen stark machen, als eine Möglichkeit. Eine weitere Möglichkeit, um den Einfluss des medizinischen Modells zu reduzieren, besteht darin, Entbindungen nicht in den grossen Krankenhäusern durchzuführen. In allen westlichen Ländern wird natürlich von der Ärzteschaft die Tendenz gefördert, zur Geburt in die Entbindungsstationen der grossen Krankenhäuser zu gehen. Es gibt aber keine wissenschaftlichen Gründe für diese Entwicklung. Es gibt vielmehr Untersuchungen, die gezeigt haben, dass kleine Kliniken für Schwangere mit einer unkomplizierten Geburt mindestens ebenso sicher sind, wie grosse Krankenhäuser. Das würde auch bedeuten, dass alternative Entbindungszentren gefördert werden sollten. Das sind Entbindungskliniken, die getrennt von Krankenhäusern, unter der Leitung von Hebammen oder auch von Ärzten, arbeiten. In Deutschland gibt es einige Zentren dieser Art, an deren Spitze ein Arzt steht. Aber es sind alternative, getrennt von den Krankhäusern entstehende Entbindungskliniken. Und es gibt gute, solide wissenschaftliche Untersuchungen die zeigen, dass diese Zentren und Kliniken sicherer, mindestens ebenso sicher sind wie Krankenhäuser für Frauen, die eine normale Schwangerschaft hatten und auch eine normale Geburt erwarten. In diesen Entbindungszentren wird auch wesentlich weniger Technologie eingesetzt, als in den Krankenhäusern.
Eine weitere Alternative ist natürlich die Hausgeburt. Die WHO hat nach kritischer Überprüfung der wissenschaftlichen Literatur festgestellt, dass für eine Frau, die eine normale Schwangerschaft hinter sich hat, die Hausgeburt genauso sicher ist, wie eine Geburt im Krankenhaus. Und es gab auch nie Nachweise dafür, dass es riskanter wäre, das Kind zu Hause zur Welt zu bringen. Aber das ist eine sehr umstrittene Sache. Gegenwärtig wird vom Verband für Geburtshelfer in Deutschland versucht, dass Hausgeburten überhaupt verboten werden sollen. In einer deutschen Geburtshelfer-Fachzeitschrift wurde vor kurzem ein Artikel veröffentlicht, der (methodisch) wirklich schrecklich war. Ein Versuch, den Leuten Angst zu machen und die Hausgeburt als gefährlich hinzustellen.
 

Evidence Based Medicine

Da ist also eine echte Konfliktsituation. Wenn wir aber etwas tun wollen, um diese unnötige, übertriebene Technologie einzuschränken, zu reduzieren, dann müssen wir die Hebammen-Intervention, die kleineren Entbindungskliniken, Hausgeburten usw. fördern. Und schliesslich müssen wir helfen, in den Ländern ein Gesundheitssystem aufzubauen, welches wirkungsorientiert ist. Ich weiss, dass noch andere über diese Evidence Based Medicine sprechen werden. Ich will es also nur kurz erwähnen. Wir brauchen Gesundheitssysteme, die überhaupt nur dann und in den Fällen auf Technologie zurückgreifen, wo es erwiesen ist, dass es von Nutzen ist.

Das System der Geburtshelfer und der Schwangerenbehandlung, das es in den meisten Ländern heutzutage gibt, ist äusserst kostenträchtig. Und das Problem für die Ärzte besteht darin, die Verwendung all dieser Gelder zu beweisen, wenn es nachgewiesen ist oder nachgewiesen werden kann, dass die gleiche Dienstleistung in wesentlich billigerer Art verabreicht werden kann, in einer Art und Weise aber, die doch wirksamer ist.
 

Diskussion
 

Anonyma:
Ich denke, es ist eine sehr gute Sache, mit den Veränderungen dort anzusetzen, indem man Mütter informiert. Das war in einigen Schweizer Städten ziemlich erfolgreich. Hebammen und Gynäkologen informierten die schwangeren Frauen über mögliche Alternativen. Dass man Hebammen z.B. auch mit ins Krankenhaus nehmen kann und dass es auch ambulante Entbindungen gibt etc. Und da entstand eine sehr interessante Diskussion, und die Spitäler mussten sich den Müttern stellen, und somit änderte sich sehr viel.

Marsden Wagner:
Nun, ich stimme mit Ihnen vollkommen überein. Aber wie wollen wir den Wandel einleiten? Er wird nicht von den Ärzten kommen. Sie haben das Geld, die Macht, die Kontrolle. Warum also sollten sie das System ändern? Von den Ärzten wird dieser Wandel sicher nicht ausgehen. Er wird auch nicht von den Behörden ausgehen, weil die viel zu viel Angst vor den Ärzten haben. Sicher gibt es auch Ausnahmen bei den Ärzten, es gibt auch Ausnahmen bei den Behörden, aber darüber reden wir ja nicht. Er wird auch nicht von den Wissenschaftlern kommen, die meistens sehr gute Daten als Beweise anführen können. Aber auch sie sehen es nicht als ihre Aufgabe an, diese Daten auch wirklich zu verteidigen. Der Wandel muss von den Frauen und von den Hebammen kommen. In den Ländern, in denen es wichtige Veränderungen gab oder derzeit wichtige Veränderungen gibt, gehen diese Veränderungen auch von Koalitionen von Frauen und Hebammen aus. Es muss in der Öffentlichkeit diskutiert werden, nur so wird sich etwas ändern. Die Hebammen und die Frauen müssen diese wissenschaftlichen Daten auswerten, müssen den ganzen wirtschaftlichen Aspekt ausschlachten und die Themen neu definieren. Denn wer die Themen neu definiert, wird auch die Lösungen finden.
Die Ärzte sprechen immer von Sicherheit, Schmerz. Das sind Themen, die von den Ärzten aufgeworfen werden. Aber darum geht's ja gar nicht. Es geht hier um die Freiheit. Es geht um die Freiheit der Frau, zu entscheiden, welche Art von Geburt sie und ihre Familie gerne haben möchten. Das nennen wir Freiheit. Und diese Freiheit ist den Frauen und den Familien bereits weggenommen worden, und zwar in vielen Ländern. Und es gibt keinen einzigen Politiker, der sich gegen die Familie und gegen die Freiheit aussprechen würde. Also: Die Themen müssen neu definiert werden. Und dann müssen sich die Frauen organisieren. Es gibt da einen sehr aufregenden neuen Bericht aus dem Vereinigten Königreich, der gerade auf diese Art und Weise zustande kam. Und ich kann Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung sagen, nachdem ich nun schon 20 Jahre in Dänemark lebe, dass der Wandel in Dänemark auch so eingeleitet worden ist. Freut mich unheimlich, dass das auch in der Schweiz so ist. Wissen Sie, was sie im Vereinigten Königreich getan haben? Die Frauen gingen in jede Institution, wo man Kinder gebären kann und haben gefragt: Dürfen die Männer bei der Geburt dabei sein? Darf man die eigene Geburtsposition wählen? usw. All diese Möglichkeiten wurden ausgelotet. Und dann haben sie so eine Art Michelin-Führer für Geburtskliniken geschrieben und haben sogar Sterne verteilt. 4 Sterne, 3 Sterne, kein Stern usw. Und dieses Buch hatte eine enorme Auswirkung im Vereinigten Königreich. Denn die Frauen haben endlich selbst entschieden. Sie wählten ein bestimmtes Krankenhaus, weil es eben 4 Sterne hatte. Und das andere Krankenhaus musste dann sehr schnell einen Wandel einleiten. So muss man vorgehen!

Anonyma:
Ich habe eine Frage zur Nichtverwendung der präventiven Technologie. Ich weiss nicht, ob Sie jemals praktizierender Arzt waren. Aber es ist sehr sehr schwierig, auch in einer normalen Schwangerschaft, Ultraschall nicht anzuwenden. Wir wissen, dass es nicht indiziert ist, aber wir müssen es trotzdem tun. Wenn wir es nämlich nicht tun - Sie mögen jetzt sagen dass das eine schlechte Entschuldigung ist -, laufen wir nämlich wirklich Gefahr... Ich hatte z.B. eine Frau mit einer normalen Schwangerschaft. Aber im 6. Monat verlangsamte sich das Wachstum des Fötus. Es wurde ein Ultraschall gemacht, und die Geburt wurde eingeleitet. Das Baby war sehr klein. Aber viele haben mir vorgeworfen, dass ich das nicht vorher untersucht und keinen normalen Ultraschall in der 12. oder 15. Woche durchgeführt habe. Nun, theoretisch haben Sie natürlich recht, es ist eine schlechte Ausrede vielleicht. Aber wenn man in der Praxis steht, ist es manchmal sehr sehr schwierig, die Technologie nicht zu verwenden.

Marsden Wagner:
Auch ich war viele Jahre in der Praxis tätig und weiss genau, wovon Sie reden. Ja, es ist schwierig. Sicher, manchmal muss man mutig sein. Aber gerade auch mit Prof. Enkin möchte ich sagen, dass es immer wieder berechtigte Gründe gibt, die Technologie zu verwenden. Und dann sollte man die Technologie auch im geeigneten Zeitpunkt im geeigneten Mass anwenden. Aber Sie und ich sprechen ja über die Fälle, wo die Evidenz nein sagt, aber der Druck Ihrer Kollegen auf Ihnen lastet und Sie die Technologien anwenden müssen. Nun, Mut! Sie müssen sich nämlich auf die Wissenschaftler verlassen. Und wenn die Evidenz Ihnen sagt, dass Sie die Technologie nicht verwenden sollten, dann sollten Sie zumindest mit allen anderen Mitteln versuchen, Evidence Based Medicine zu praktizieren. Ich weiss, dass das keine zufriedenstellende Antwort ist.

Anonyma:
Ich bin eine Frau, und ich bin Ärztin. Ich habe selber ein Kind geboren, ohne irgendwelche medizinischen Interventionen. Und es hat weh getan, natürlich. Und jetzt bin ich aber sehr stolz, dass ich den Schmerz überstanden habe. Mein Mann ist Anästhesiologe, und sein Chef hat in Österreich den Epidural-Block eingeführt. Er hatte das in Amerika gelernt und dann in Österreich eingeführt. Und er hat allen Frauen, die zum ersten Mal zur Schwangerschaftskontrolle ins Krankenhaus kamen, eine Broschüre über den Epidural-Block verteilt. Ich habe, als ich zum ersten Mal dort ankam, mein Bestes versucht, gegen diesen Druck, der aufgrund dieser Broschüre entstand, anzukämpfen. In Österreich gibt es auch solche Zentren, wie Sie sie eben beschrieben haben. Zentren, in denen die Mithilfe von Hebammen gefördert wird. Jetzt haben wir die Situation, dass als ein Gynäkologe einer menschlichen Geburt das Wort redete und eine Spezialistin in Neonatologie die Känguruh-Methode anpries, beide negative Konsequenzen erleiden mussten. Aber es hat eine Wirkung, die Dinge haben geändert. Die meisten grossen Krankenhäuser mussten ihren Standpunkt ändern. Die Krankenhäuser müssen den Frauen ja jetzt die Wahl lassen, ob sie ihren Mann mit zur Geburt bringen wollen oder nicht. Nicht alles ist sehr gut in Österreich, aber die Dinge ändern sich zum Besseren.

Marsden Wagner:
Danke. Einer meiner Artikel, mit dem Titel «The global witchhunt» wurde gerade im Lancet akzeptiert. Er beschreibt die internationale Hexenjagd. Es sind meine eigenen Erfahrungen in 20 Gerichtsfällen in 10 Ländern in den letzten 10 Jahren. Ein Gerichtsfall handelt von einem dieser Ärzte in Österreich, den Sie gerade beschrieben haben. Sie können den Artikel selbst lesen. Aber was ich in diesem Artikel beschreibe und sage ist, dass die orthodoxe Medizin die Hexenjagd in Gang gesetzt hat und auch den Ärzten auf der Spur ist, die die sogenannte soft medicine, also die sanfte Medizin, die Alternativmedizin befürworten. Sie wollen beweisen, dass die Sache gefährlich ist. Es ist nämlich die einzige Möglichkeit für sie zu beweisen, dass ihre eigenen Methoden, die so teuer sind, wirklich die besseren sind. Nun, Sie wissen ja, dass die Politik immer etwas Persönliches, etwas Lokales ist. Änderungen und Wandel gibt es ja nur dort, wo sich die Leute persönlich einsetzen. Und Sie müssen dort etwas tun, wo Sie es können.

Johannes Schmidt:
Wir müssen die Diskussion hier abbrechen. Mut brauchen wir! Und wir werden vielleicht bei der nächsten Darbietung sehen, wie Mut entstehen kann...
(... Es folgte das Konzert mit Verena Barbara Gohl und Corina Gieré, «Lieder und Tänze des Todes» von Modest Mussorgsky.)

1) Marsden Wagner. Persuing the Birth Machine - The Search for Appropriate Birth technology. ACE Graphics, Camperdown/Sydney 1994
 Kann bei der Stiftung Paracelsus Heute bezogen werden
 
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