Das Online-Magazin des DATADIWAN
Ausgabe Nr. 1 / März 1998 - ISSN 1435-1560 
 
Umweltmedizin
von Marco Bischof
 
Zusammenfassung: 
Übersichtsartikel zur Entwicklung der Umweltmedizin. Begründete wurde sie von dem amerikanischen Allergologen Dr. T. G. Randolph, der bei Patienten Überempfindlichkeit auf gewöhnliche Nahrungsmittel  und später auch auf Chemikalien feststellte. Seine These ist, daß die mißlungene Anpassung des modernen Menschen an synthetische Chemikalien zu einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber diesen Substanzen führt. 
In den 80 er Jahren entwickelte sich die Richtung der klinischen Ökologie, die klinisch-therapeutisch orientiert ist und den einzelnen Patienten mit seinen Beschwerden in den Mittelpunkt stellt. 
Der Artikel geht auch auf die Kontroverse klinischen Ökologie versus orthodoxe Allergologie und Immunologie ein und zeigt, wie diese Auseinandersetzung sich in dem jeweiligen Verständnis von Heilung wiederspiegelt. 

Summary: 
 Synopsis on the nature and history of environmental medicine is presented. It was founded by the American allergologist, T.G.Randolph, who found hypersensitivities for ordinary foodstuffs and, later, also for chemicals and drugs in his patients. He postulates that a failed adaptation of modern man to synthetic chemicals leads to heightened  sensitivity for these substances. 
In the 1980s, the School of Clinical Ecology was developed, which is clinically and therapeutically oriented and centers around individual patients with their complaints, while orthodox environmental medicine is epidemically and preventively oriented. 
The text also covers the controversy of Clinical Ecology vs. Orthodox Allergology and Immunology and shows how it is reflected in the different conceptions of illness and healing of the two ways of thinking. 

Schlüsselwörter: 
Umweltmedizin, Klinische Ökologie, Allergien, Multiple Chemical Sensitivity, MCS 
Keywords: 
Environmental Medicine, Clinical Ecology, Allergies, Multiple Chemical Sensitivity, MCS

 
Definition
Entwicklung der Umweltmedizin
Umweltmedizin und klinische Ökologie
Die Kontroverse um die klinische Ökologie
Kommentar
Links
Literatur
 
Definition
Die Umweltmedizin erforscht die Rolle von Umweltfaktoren, insbesondere Allergenen aus der Umwelt und Nahrungsmitteln für Gesundheit und Krankheit. Faktoren wie Staub, Pilze, Chemikalien, Schwermetalle (Quecksilber im Amalgam!) und gewisse Nahrungsmittel können allergische Reaktionen hervorrufen, die Krankheiten und gesundheitliche Störungen wie Asthma, Heufieber, Kopfweh und Depressionen auf dramatische Weise verschlimmern können. Eine große Zahl von chronischen körperlichen und seelischen Krankheiten, bei denen solche Faktoren mitbeteiligt sind, können durch Methoden der Umweltmedizin gelindert oder gar geheilt werden.
 
Entwicklung der Umweltmedizin
Das Gebiet der Umweltmedizin wurde begründet durch den amerikanischen Arzt Dr. Theron G. Randolph [1906-1995], einen prominenten Chicagoer Allergiespezialisten und Professor an der medizinischen Fakultäten von vier Universitäten. Seit den späten 40er Jahren hatte er beobachtet, daß Patienten auf gewöhnliche Nahrungsmittel überempfindlich reagieren und dann Symptome wie Reizbarkeit, Kopfweh, Ekzeme, Müdigkeit, Arthritis, Depressionen, Verdauungsbeschwerden und Verhaltensstörungen entwickeln können. Etwas später konnte er nachweisen, daß auch Chemikalien in der Umwelt solche tiefgreifenden negativen Reaktionen auslösen können. Nach seiner Auffassung führte die mißlungene Anpassung des modernen Menschen an synthetische Chemikalien zu einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber diesen Substanzen. Er dokumentierte unzählige Fälle und entwickelte erste Behandlungsansätze. Sein Buch „Human Ecology and Susceptibility to the Chemical Environment", 1962 erschienen, war das erste Lehrbuch auf dem Gebiet. Seither sind ihm viele weitere amerikanische Ärzte gefolgt, unter denen vor allem Joseph B. Miller, H. J. Rinkel und William J. Rae zu nennen sind. Eine Behandlungsmethode für chemische und Nahrungsmittel-Allergien wurde erstmals Ende der 60er Jahre von Dr. Carlton H. Lee beschrieben und 1972 durch Dr. Joseph B. Miller modifiziert (Miller, 1972). Dr. William J. Rea, der in Dallas, Texas, eine Umweltklinik betreibt, erhielt 1988 den ersten Lehrstuhl für Umweltmedizin an der Universität von Surrey in England. Raes Lehrbuch „Chemical Sensitivity", dessen letzter Band 1997 erscheinen ist, ist heute das Standardwerk der Umweltmedizin (Klinischen Ökologie).
 
Umweltmedizin und Klinische Ökologie
In den 80er Jahren wurde die Umweltmedizin auch von einigen deutschen Ärzten aufgegriffen. In Deutschland kann man heute wie in den USA zwei unterschiedliche Ansätze der Umweltmedizin unterscheiden. Eine konservative Richtung, in ersten Linie von Arbeitsmedizinern und Hygienikern vertreten, ist vorwiegend theoretisch-epidemiologisch orientiert und ist in erster Linie an Überwachung und Vorsorge interessiert. Die zweite Richtung der eigentlichen „Klinischen Ökologie" folgt dem in Amerika durch Rae entwickelten Ansatz, der stark klinisch-therapeutisch orientiert ist und den einzelnen Patienten mit seinen Beschwerden in den Mittelpunkt stellt. Während die erste Richtung sich auf das klassische Allergiker-Symptombild und Eiweiss-Unverträglichkeiten beschränkt, versucht die klinische Ökologie die Gesamtbelastung des Patienten durch alle Arten von biologischen, chemischen und physikalischen Reizen (Multiple Chemical Sensitivity, MCS) zu erfassen, die neben den eigentlichen Allergien auch Pseudoallergien, toxikologische Befunde (Schadstoff-Akkumulation, so auch durch Amalgam-Zahnfüllungen) und Chemikalienüberempfindlichkeit, Stoffwechselprobleme und die Überempfindlichkeit für elektromagnetische Felder einbezieht. Ins Umfeld der MCS gehören auch die ebenfalls umstrittenen Krankheitsbilder der Überempfindlichkeit auf den Pilz Candida albicans, das Chronische Müdigkeits-Syndrom (Chronic Fatigue Syndrome, CFS) und das Sick-Buidling-Syndrome (Beschwerden, die auf Einflüsse der gebauten Umgebung (Architektur) am Arbeitsplatz und in der Wohnung, von Chemikalien in Baustoffen, künstlicher Beleuchtung, elektromagnetische Felder etc. zurückgeführt werden). Nicht spezifische immunologische Reaktionen, sondern die allgemeine unspezifische Reaktion des Organismus, die zu einem generellen Überlastungsproblem durch die akkumulierten Reize unterschiedlichster Natur führen kann, steht im Mittelpunkt dieses Konzeptes. Dabei postuliert die Klinische Ökologie, daß Substanzen bereits in Dosierungen, die von der Toxikologie als ungefährlich eingestuft werden, durch kumulierte Wirkung mehrerer oder vieler Agentien und durch andauernde Streß-Belastung eine Dysregulation des Immunsystems bewirken und damit krankmachen können. Die Klinische Ökologie berücksichtigt auch den psycho-neuro-immunologischen Reaktionskomplex. Nach Auffassung ihrer Vertreter, die in den USA in der American Academy of Environmental Medicine (AAEM) zusammengeschlossen sind,  ist der Ansatz der Klinischen Ökologie umfassender und ganzheitlicher als derjenige der konservativen Richtung, aber auch sehr viel schwieriger nachzuweisen. Sie weisen darauf hin, daß Patienten, die mit diesem Ansatz erfaßt werden und damit einer Therapie zugeführt werden könnten, sonst nicht selten psychiatrisiert würden.
 
Die Kontroverse um die Klinische Ökologie
Der Ansatz der Klinischen Ökologie stößt aber sowohl in den USA wie auch in Deutschland auf Ablehnung, v.a. allem durch orthodoxe Allergologen und Immunologen (siehe Barrett, 1997). Kritikpunkte sind dabei u.a. das Fehlen einer klaren Definition des Multiple Chemical Sensitivity Syndrome (MCSS) und eines diagnostischen Tests sowie von Therapieverfahren, die in kontrollierten Studien klinisch geprüft sind. Die Symptome des MCSS sind ähnlich wie diejenigen vieler anderer Krankheiten; wegen der großen Zahl unterschiedlicher Symptome und dem Fehlen von objektiven Anhaltspunkten, sowie der Überlappung von Symptomen mit denen von bekannten Krankheiten wie Depression, Polymyalgie etc., ist die Validierung schwierig. Es gibt keine gut kontrollierten klinischen Studien, die eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen dem Einfluß von niedrigen Intensitäten von Substanzen und der Unzahl von Symptomen zeigen, die gemäß der Klinischen Ökologie von einem solchen Einfluß resultieren. Unbestritten ist, daß es Personen gibt, die allergisch auf Substanzen in Umwelt oder Nahrung sind oder diese nicht vertragen; auch die Existenz extremer Überempfindlichkeiten auf minimale Konzentrationen von Nahrungs-, Medikamenten- und Chemikalien-Allergenen bei einzelnen Patienten wird anerkannt. Umstritten ist jedoch die Behauptung der Klinischen Ökologie, daß solche Reaktionen weitverbreitet und nicht selten seien. Die Kontroverse betrifft u.a. die minimale Konzentration, in der Substanzen noch negative Reaktionen auslösen können, die Natur solcher Wirkungen und ihre Wirkungsmechanismen (Estes, Coble, et al, 1992). Die Stellungnahme der AMA (Estes, Coble, et al, 1992) fällt jedoch gemässigter und ausgewogener aus, als Barrett (1997) in seinem „Quackwatch"-Beitrag es darstellt. Es wird festgestellt, daß das Fehlen klinisch geprüfter diagnostischer Tests und Therapien nicht notwendigerweise eine fehlende wissenschaftliche Gültigkeit der Klinischen Ökologie bedeutet. Streng kontrollierte Studien könnten viele ihrer Tests und Therapien validieren und wissenschaftlich begründen.
Barrett (1997) führt an, man kenne keinen Mechanismus, über den Chemikalien in geringer Konzentration, oder solche von unterschiedlichster chemischer Struktur, gleichzeitig auf verschiedenste Organsysteme negativ wirken könnten. Das Konzept der „Gesamtbelastung" (Total Body Load) erfordere, daß die Gesamtheit vieler geringer Konzentrationen völlig unterschiedlicher Chemikalien (und auch von Infektionen und psychologischen Streßfaktoren) dieselbe Wirkung hätten wie massive Dosen einzelner Substanzen.
Kritische Stellungnahmen zu den Theorien und der Praxis der Klinischen Ökologie wurden in den letzten Jahren in den USA von der American Medical Association (AMA) (Estes, Coble, et al, 1992), dem American College of Physicians (Terr, 1989) und der American Academy of Allergy, Asthma and Immunology (Anderson, et al., 1986) veröffentlicht; in Deutschland von Ruppin (1985), Ring et al. (1991), Hahn (1991), Ostendorf (1992).
 
Kommentar
Der Kern der Kontroverse um die Klinische Ökologie liegt in den selben unterschiedlichen Auffassungen über Krankheit und Heilung, die auch sonst „wissenschaftliche Medizin" und Ganzheitsmedizin trennen und in der Geschichte der Schulmedizin miteinander konkurrieren. Der klassische Krankheitsbegriff der „wissenschaftlichen Medizin" läßt nur ‘spezifische Wirkungen’ gelten, womit sich Symptome auf spezifische mechanische, biochemische, mikrobiologische o.ä. Kausalketten zurückführen lassen und somit als Produkt eines einzelnen, lokalisierbaren Faktors betrachten lassen. Eine Krankheit liegt dann vor, wenn es eine anerkannte Ätiologie (Krankheitsursache) oder Pathophysiologie für sie gibt, die in der Regel aus biologischen Tests oder Untersuchungen gewonnen wird (Klerman, 1989).Viele medizinische, psychologische und psychiatrische Beschwerden, mit denen die Patienten die Allgemeinpraxis aufsuchen,  entsprechen jedoch nicht den Kriterien einer Krankheit in diesem klassischen Sinn, d.h. sie sind unspezifisch. Die Naturheilkunde und Ganzheitsmedizin kennen viele unspezifische Heilverfahren, die nicht gezielt und direkt in bestimmte Prozesse eingreifen, sondern ihre Heilwirkung über ausgedehnte Reaktionen (systemische Wirkungen), oft des ganzen Körpers, entfalten (Lüderitz, 1972). Unspezifische Wirkungen und Reaktionen spielen überhaupt eine zentrale Rolle in der Ganzheitsmedizin. Sie beruhen auf der Existenz vielfältiger, komplexer Regulationssysteme im Organismus, die diesen oft auf ganzheitliche Weise auf Reize reagieren lassen. Auch die Immunologie kennt neben der spezifischen Immunität eine unspezifische, die vor der spezifischen einsetzt und als Basis für diese dient. Funktionelle Grundlage der unspezifischen Immunität ist das Bindegewebe (Extrazelluläre Matrix), das als ein eigenständiges, den ganzen Organismus durchziehendes Organ betrachtet werden muß und für die Krankheits- und Heilungskonzepte der Ganzheitsmedizin eine zentrale Rolle spielt (Heine, 1997). In diesem Lichte betrachtet, werden auch viele Aspekte der Klinischen Ökologie um einiges plausibler.
31. Januar 1998
Copyright: 1998 Marco Bischof
 
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