Mein wichtigstes Anliegen zur Methodologie
Autor: Hornung, Joachim
Keywords: Randomisierte Doppelblindstudie, Kritik, Alternativen 
Abstract: Die Entwicklung der Methoden des klinischen Wirksamkeitsnachweises von der Fallschilderung bis zur randomisierten Doppelblindstudie wird kurz skizziert. 
Copyright: Schattauer Verlagsgesellschaft mbH, Lenzhalde 3, 70192 Stuttgart, 1996 
7. Jun. 1996 
 
 
Summary. The development of efficacy-testing methods for medical therapies from case reports to randomised double-blind clinical trials is shortly sketched. For each stage in this development improvements as well as drawbacks are described. The drawbacks of the randomised trials are at times so serious that new concepts should be developed. To this end two axiom-like principles are formulated from which a number of inferences are drawn. Three alternatives to the randomised trials are presented but they have not been elaborated well thus far.

Beyond all these theoretical considerations my main concern is that all our efforts be directed to the establishment of a humane medicine.

Subject: Randomised Double-Blind Clinical Trial, Criticism, Alternatives

veröffentlicht in: Forschung in der Komplementärmedizin, Hrsg.: Hornung, 1996, Schattauer Verlag, DM 49,00



Inhalt
 
Formen des Wirksamkeitsnachweises
Grundsätze der Therapieprüfung
Probleme; Kritik und Alternativen zu kontrolliert klinischen Studien
Tabelle zu Probleme; Kritik und Alterantiven ...
Besinnung
Verschiedene Namen für eine andere Medizin
Mein wichtigstes Anliegen
Literatur
 
1 Formen des Wirksamkeitsnachweises
 
Während ganz allgemein die randomisierte Doppelblindstudie als das non plus ultra der klinischen Therapieprüfung angesehen wird [4, 12, 13], haben einige Autoren ernstliche Bedenken gegen sie vorgebracht [6, 7, 12]. Diese Bedenken betreffen die Anwendbarkeit in der Medizin im allgemeinen ebenso wie die Anwendbarkeit in den besonderen Therapierichtungen.

Tab. 1 Formen des klinischen Wirksamkeitsnachweises
Art der Beobachtung  Gewinn Verlust 
1 Fallberichte  Auffälliges, Neues und Überraschendes tritt hervor  retrospektiv 

selektioniert

2 Anwendungsbeobachtung  prospektiv 

vollständige Dokumentation 

keine Selektion 

Naivität
3 einarmige prospektive Studie  einheitliche Therapie 

Objektivität: Unabhängig vom behandelnden Arzt 

Individualität 

Flexibilität 

ärztl. Kompetenz 

4 kontrollierte Studie  Vergleichsmöglichkeit beliebige Interpretation 
5 randomisierte Studie  Strukturgleichheit Vertrauen 
6 doppelblinde Studie  Erwartungsgleichheit ! 

Behandlungsgleichheit 

Beobachtungsgleichheit 

Kompetenz von Arzt 
und Patient 

Verlaufskontrolle 

7 + individuelle Therapie  beste Therapie I Objektivität: Unabhängigkeit vom behandelnden Arzt 
8 + flexible Therapie  beste Therapie II
9 + Mitentscheidung und Mitwirkung des Patienten  patient competence 
aktive Mitarbeit 
Souveränität des Arztes
Die randomisierte Doppelblindstudie kann als der Schlußpunkt einer Entwicklung angesehen werden, die bei den Fallberichten begann und über verschiedene Zwischenstadien hinführte zu einer vermeintlich perfekten Lösung des Problems des klinischen Wirksamkeitsnachweises. Es soll hier der Versuch unternommen werden, diese einzelnen Entwicklungsschritte kurz zu skizzieren und anzugeben, welche Vorteile jeder einzelne Schritt mit sich brachte, gleichzeitig aber auch, welche Nachteile damit in Kauf genommen wurden. In Tabelle 1 sind die wichtigsten Entwicklungsstufen zusammengestellt.

Die älteste Art und Weise, wie man sich über die Wirksamkeit einer Behandlung Rechenschaft ablegte und anderen darüber Mitteilung machte, war die Beobachtung und Schilderung des Behandlungsverlaufs einzelner Patienten. Fallberichte werden gewöhnlich retrospektiv angefertigt und sind hochgradig selektioniert, d.h. es werden die Fälle ausgewählt, die die Thesen des Autors unterstützen. Wahrnehmung und Schilderung der Ereignisse sind beliebig subjektiv; auch Einflußfaktoren und Vorkommnisse werden selektiv wahrgenommen und mitgeteilt.

Einen eher systematischen, wissenschaftlichen Charakter hat die Anwendungsbeobachtung. Das diagnostische und therapeutische Handeln wird nicht verändert, jedoch werden genaue Beobachtung und vollständige Dokumentation im Vorhinein geplant und nach strengen, selbst auferlegten Regeln durchgeführt. Alle in die Anwendungsbeobachtung aufgenommenen Patienten müssen in der Auswertung erscheinen, d.h., eine Selektion der Fälle ist ausgeschlossen. Einflußgrößen und Erfolgskriterien werden im voraus definiert und so genau wie möglich erfaßt. Damit werden eine hohe Zuverlässigkeit, Verbindlichkeit und Objektivität der Dokumentation angestrebt.

Einen Schritt weiter geht die Entwicklung mit der Einführung der einarmigen prospektiven Studie, bei der die durchzuführende Therapie standardisiert wird, so daß gerade über diese eine Therapie am Ende eine Aussage gemacht werden kann. Dieses ist der entscheidende Schritt von der reinen Beobachtung zum Experiment, indem die Wahl der Therapie nicht mehr ausschließlich durch die Bedürfnisse des Patienten bestimmt ist, sondern auch durch den Studienplan, d.h. durch das Forschungsmotiv. Nicht jeder Patient bekommt also die für ihn nach bestem Wissen des Arztes geeignetste Therapie. Wenn dem so wäre, könnte das Vorhaben auch als Anwendungsbeobachtung durchgeführt werden. Im Interesse der Erkenntnisgewinnung wird hiervon abgewichen zugunsten einer gleichen Behandlung für alle Patienten des Untersuchungskollektivs. Der Arzt mit seiner Sachkenntnis und seiner Fähigkeit zur bestmöglichen Führung jedes einzelnen Patienten tritt hinter den Studienplan zurück. Damit wird eine Art Unabhängigkeit der Studienergebnisse vom behandelnden Arzt erstrebt; man glaubt, die Therapie an sich prüfen zu können: Eine, wie ich meine, unsinnige Begriffsbildung. Im Jargon der Statistiker gesprochen, will man den Störfaktor Arzt ausschalten.

Der Schritt von der Anwendungsbeobachtung zur einarmigen Studie ist ein gewaltiger. Das erkennt man schon daran, daß bei letzterer das Gesetz Aufklärung und Einverständnis der Patienten fordert, was bei ersterer nicht der Fall ist. Schon der Gesetzgeber hat berücksichtigt, daß hier ein problematischer Schritt getan wird, der, wie man vermuten kann, durch das Einverständnis des Patienten eine Art Legitimation erfahren soll. Das Ziel ist die objektive Erkenntnis, unabhängig vom Patienten, unabhängig vom Arzt, die reine Wahrheit. Solche Vorstellungen stammen aus den Naturwissenschaften, sind aber auf die Medizin nur äußerst begrenzt anwendbar [9].

Der nächste Schritt der Verwissenschaftlichung der klinischen Therapieprüfung ist die Einführung der kontrollierten Studie, bei der der zu prüfenden Therapie mindestens eine andere Therapie gegenübergestellt wird. Der Vergleich einer neuen Therapie mit einer herkömmlichen ist ein relativer, während durch die Verwendung von Placebo in der Kontrollgruppe ein absoluter Wirksamkeitsnachweis - über den Placebo-Effekt und den Droge-Arzt-Effekt hinaus - erreicht werden soll.

Um von unterschiedlichen Ergebnissen in den Patientengruppen auf Unterschiede zwischen den Therapien schließen zu können, müssen die Gruppen logischerweise strukturgleich, d.h. nach allen erdenklichen Parametern möglichst gleich zusammengesetzt sein. (Diese Erklärung ist etwas oberflächlich; näheres siehe [11].) Um Strukturgleichheit zu erzielen, bedient man sich der Randomisation. Dies ist ein sehr kritischer Punkt. Die Randomisation kann nur mit Zustimmung des Patienten erfolgen, was eine entsprechende Aufklärung voraussetzt. Dadurch kann das Vertrauen der Patienten in Arzt und Therapie verlorengehen. Auch das Selbstverständnis des Arztes kann Schaden nehmen. Unvollständige Aufklärung ist unethisch, Verweigerung der Patienten kann die Studie verhindern. Im naturheilkundlichen Bereich ist Randomisation oft gar nicht möglich, da sowohl Ärzte als auch Patienten eine bestimmte Behandlung klar bevorzugen. Die Hindernisse, die einer Randomisation im Wege stehen können, wurden in [1] sehr gut dargestellt.

Strukturgleichheit allein genügt jedoch noch nicht, um von unterschiedlichen Ergebnissen auf unterschiedliche Wirkungen der Therapien schließen zu können. Notwendig ist weiterhin Erwartungsgleichheit, d.h. in beiden Gruppen müssen die Erfolgserwartungen der Ärzte ebenso wie die der Patienten gleich sein. Gleichheit der Erwartungen wird durch das Doppelblindverfahren zu erreichen versucht, welches aber nicht überall anwendbar ist. (Viele Therapieformen eignen sich hierzu nicht, wie Operationen, physikalische und manuelle Therapie, Ernährungs- und Bewegungstherapie, Psychotherapie usw.) Durch das Doppelblindverfahren werden weiterhin Behandlungsgleichheit und Beobachtungsgleichheit erst glaubhaft möglich.

Das Doppelblindverfahren ist, ebenso wie die Randomisation, nach dem zweiten Weltkrieg in die klinische Forschung eingeführt worden, siehe [15]. Beide scheinen vom logischen Standpunkt her notwendig zu sein, um stringente Ergebnisse zu erzielen, sind jedoch für einen Arzt, solange er noch Arzt ist, und für einen Patienten, solange er noch Patient ist, absurd. Sie widersprechen einer natürlichen Behandlungssituation. Aus wissenschaftlichen Gründen werden unnatürliche Verhältnisse geschaffen, bei denen niemand weiß, ob die so erzielten Therapieergebnisse etwas über die gewöhnliche Praxis aussagen. Medizin hat sehr viel mit Vertrauen zu tun; der Körper kann nicht losgelöst von Geist und Emotionen betrachtet werden. Das Doppelblindverfahren ist nur dort problemlos anwendbar, wo es sich um rein pharmakologische Wirkungen handelt, wo es keine psychogenen Effekte gibt. Dort wäre es aber überflüssig [7].

Wo mit psychogenen Effekten zu rechnen ist, ist das Doppelblindverfahren notwendig, um jene zu neutralisieren; zugleich ist es aber unsinnig, da durch die Kenntnis des Verfahrens bei Arzt und Patient die natürliche Behandlungssituation, also der Gegenstand, über den man etwas aussagen will, zerstört wird [7]. Einen tiefen Blick in die Probleme, die die Verblindung mit sich bringen kann, gewährt Walach in [18].

Es fragt sich, ob es Formen der Therapieprüfung geben kann, die sichere Schlüsse erlauben, zugleich aber die genannten Nachteile vermeiden. Randomisation und Doppelblindanlage sind vom logischen Standpunkt aus so unabdingbar, daß derzeit keine echten Alternativen bekannt sind. Andererseits schaffen sie aber psychologisch gesehen so unhaltbare Zustände, daß andere Wege gefunden werden müssen. Der Schweiß der Edlen ist gefragt.

Es gibt aber noch andere Aufgaben zu lösen: Zum Beispiel wäre es wichtig, von einer einheitlichen Therapie für alle Patienten loszukommen. Statt dessen müßte die Therapie individuell für jeden einzelnen Patienten ausgewählt werden. Daß dies sogar bei randomisierten Doppelblindstudien möglich ist, wurde in einigen Homöopathie-Studien gezeigt [10].

Weiterhin wäre Flexibilität anzustreben, d.h. die Therapie könnte im Verlauf der Behandlung den jeweiligen Gegebenheiten angepaßt werden. Individualität und Flexibilität der Therapie würden bedeuten, daß nicht einzelne starre Therapien, sondern therapeutische Strategien geprüft würden, welche durchaus in einem Ablaufplan kodifiziert werden könnten. In einem solchen Plan könnte festgelegt werden, wann welcher Weg beschritten wird; es könnten aber auch Entscheidungen nach Ermessen zugelassen werden.

Ebenfalls wichtig wäre es, Mitentscheidungen und aktive Mitarbeit der Patienten in ein neues Konzept der Therapieprüfung aufzunehmen.

Um die gestellte, sicherlich schwierige Aufgabe, bessere Prüfkonzepte zu entwickeln, anzugehen, sollen im folgenden einige Grundsätze formuliert werden, die ein solches Konzept erfüllen müßte.
 
zum Anfang2 Grundsätze der Therapieprüfung
 
Zwei wesentliche Anforderungen an eine sinnvolle Therapieprüfung sind die folgenden (siehe auch Tabelle 2):

A. Praxiskonformität,
B. optimale Bedingungen für Prüf- und Vergleichstherapie.

Die erste Anforderung versteht sich von selbst; die zweite mag etwas erläutert werden. Suboptimale Bedingungen wären nicht definierbar; am Ende wäre unklar, wie die Studienergebnisse zu bewerten sind. Optimale Bedingungen sind nur näherungsweise erreichbar, aber, auch aus ethischen Gründen, soweit irgend möglich anzustreben. Jede einzelne Therapie in einer kontrollierten Studie muß unter den für sie optimalen Bedingungen durchgeführt werden, sonst stimmt der Vergleich nicht.

Die beiden Anforderungen sind weittragend und führen u. a. zu folgenden Forderungen im einzelnen:

Die Rahmenbedingungen, unter denen die Behandlungen stattfinden, müssen in jeder Hinsicht für den Krankheitsverlauf so günstig wie möglich gewählt werden.

Tab. 2 Einige Grundsätze der kontrollierten klinischen Therapieprüfung
  • Praxiskonformität, 
  • optimale Bedingungen für jede der eingesetzten Therapien. 
Diese Grundsätze erfordern:  
  1. Bestmögliche Rahmenbedingungen, Basis- und Begleittherapien in allen Gruppen, 
  2. kompetente und engagierte Ärzte, 
  3. keine Bevorzugung der einen oder anderen Therapie (Vorurteile, Erwartungen), 
  4. Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, 
  5. für jeden einzelnen Patienten die für ihn beste Therapie; d.h. individuelle Therapiewahl und flexible Führung des Patienten, 
  6. Kombinationen geeigneter Verfahren, 
  7. Beachtung der Kontextabhängigkeit: Die einzelnen Maßnahmen erhalten ihren Sinn erst im Gesamtzusammenhang einer ganzheitlichen Behandlung. 
Hierzu zählen für beide Therapieformen gemeinsam allgemeine Versorgung, Klinikatmosphäre, psychologische und menschliche Betreuung, usw. Zu nennen sind aber auch die spezifischen Vorbedingungen für die eine oder andere der zu vergleichenden Therapien, die durchaus verschieden sein können.

Die behandelnden Ärzte müssen in den zu prüfenden Therapien sehr erfahren sein, ihnen positiv gegenüberstehen und sie mit großem, auf Erfolg zielenden Engagement betreiben. Dieses muß für die zu prüfende Therapie ebenso gelten wie für die Vergleichstherapie. Wenn Ärzte, die diese Anforderung für beide Therapieformen in einer Person erfüllen, nicht gefunden werden, muß zwangsläufig auf eine konkurrierende Therapieprüfung ausgewichen werden [8].

Sowohl die behandelnden Ärzte als auch die Patienten müssen zu beiden Therapieformen die gleichen Erfolgserwartungen haben. Sollte die Erfolgserwartung an die eine Therapie höher sein als an die andere, dann findet die Prüfung nicht unter fairen Voraussetzungen statt. Dies ist sofort einsichtig für die gar nicht so seltenen nicht-blinden Prüfungen; aber auch bei blinden und doppelblinden Prüfungen ist dies wichtig. Gründe hierfür sind: Versagen der Blindheit, schwer zu ertragende Spannung bei unterschiedlichen Erwartungen, Rosenthaleffekt in allen Facetten [16]. Dieser Punkt dürfte bei Therapieformen, die kontrovers beurteilt werden, was gerade in der Komplementärmedizin häufig ist, schwer zu erfüllen sein. Auch in solchen Fällen wird nur eine konkurrierende Therapieprüfung übrigbleiben.

Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient und beider zur Therapie muß ungestört sein. Durch Aufklärung und Einverständniserklärung, durch Randomisation und Blindanlage können hier erhebliche Irritationen eintreten, und zwar nicht nur beim Patienten, sondern auch beim Arzt. Denn auch der Arzt muß zu sich selbst, zum Patienten und zur Therapie Vertrauen haben als Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie.

Für jeden einzelnen Patienten muß diejenige Therapie gewählt werden, die für ihn die günstigste ist: Dies erfordert eine individuelle Wahl und eine flexible Führung der Therapie, was in der Praxis der klinischen Studien bisher nicht üblich ist. Umgekehrt kann man auch sagen, um eine Therapie unter den günstigsten Bedingungen zu prüfen, dürfen nur solche Patienten herangezogen werden, für die gerade diese Therapie die bestmögliche ist.
 
zum Anfang3 Probleme, Kritik und Alternativen zu kontrollierten klinischen Studien
 
Die Problematik der klinischen Therapieprüfung sei noch unter einem anderen Gesichtswinkel betrachtet. Nach Thomas Kuhn [14] unterscheidet man den gewöhnlichen Wissenschaftsbetrieb einerseits von einer wissenschaftlichen Krise andererseits. Im gewöhnlichen Wissenschaftsbetrieb geht man von festen Grundannahmen aus, die nicht in Zweifel gezogen werden, und versucht, auf dieser sicheren Basis aufbauend durch Überlegung, Beobachtung und Experiment alle nur möglichen Erkenntnisse zu gewinnen. Der gewöhnliche Wissenschaftsbetrieb ist sehr fruchtbar, da man keine Zeit und Energie darauf verwenden muß, die Grundlagen ständig zu diskutieren und in Zweifel zu ziehen. In solchen ruhigen Zeiten kann gründlich und konsequent gearbeitet werden. Eine Wissenschaftskrise entsteht durch das Auftauchen von Widersprüchen im System und unerklärlichen Phänomenen. Eine solche Krise kann, wenn sie sich verschärft, zu einer wissenschaftlichen Revolution (Kuhn) führen, in der die alten Grundannahmen fallengelassen und durch neue ersetzt werden. Man denke an die kopernikanische Wende oder an die Ablösung der Newton'schen Physik durch die Einstein'sche Relativitätstheorie.

In den 50er Jahren sind Randomisation, Doppelblindverfahren und Placebo-Kontrolle in die klinische Forschung eingeführt worden und haben sich inzwischen zu festen Grundprinzipien, zu Paradigmen im Sinne Kuhns, entwickelt. Im normalen Wissenschaftsbetrieb werden diese als vorgegebenes Ideal betrachtet, und man führt klinische Studien in großer Zahl nach diesen Prinzipien durch. Man befaßt sich ausführlich mit den darin auftretenden Problemen, beispielsweise mit der Patienten-Compliance, den drop-outs, dem Unblind-Werden einer Studie usw., siehe Tabelle 3. Es werden viele Fachartikel zu methodologischen Fragen geschrieben, es erscheinen Fachzeitschriften, die sich diesem Thema widmen, es erscheinen Lehrbücher, es werden Kongresse abgehalten, und das Fach Methodologie erhält Eingang in das Medizinstudium.

Die Grundprinzipien werden aber kaum diskutiert. Im Gegenteil, sie werden vehement eingefordert, wenn Außenseiter nicht bereit sind, diese anzuerkennen, oder wenn unkonventionelle Therapieformen nicht nach diesen Prinzipien validiert sind [4].

Schon frühzeitig ist an den Grundprinzipien Randomisation, Doppelblindverfahren und Placebo-Kontrolle Kritik geübt worden [12], und in neuerer Zeit gibt es wieder Stimmen, die diese Prinzipien ernstlich in Zweifel ziehen [7, 12].

Tab. 3 Probleme, Kritik und Alternativen zu kontrollierten klinischen Studien
Probleme Kritik  Alternativen
Compliance 

Drop-outs 

Unblinding 

Wahl der Dosen 

Aufklärung 

Einverständnis 

Erfolgskriterien 

Lebensqualität 

Statistische Auswertung 

Kovariable 

Verallgemeinerbarkeit 

Randomisation 

Doppelblind 

Individualität 

Flexbilität 

Neutralität 

Eigenverantwortung der Patienten 

Konkurrierende Therapieprüfung 

Single-Case Studies 

Anwendungsbeobachtungen

Es wird hervorgehoben, daß diese Verfahren nicht nur (theoretisch notwendig erscheinende) Vorteile mit sich bringen, sondern zugleich auch erhebliche Nachteile. Einige der wichtigsten Kritikpunkte sind, wie bereits besprochen, Einschränkungen der ärztlichen Handlungsfreiheit, mangelnde Neutralität den zu vergleichenden Therapien gegenüber, usw.

Solche Kritik an den Grundlagen einer Wissenschaft, hier der Methodologie klinischer Therapieprüfungen, wird naturgemäß vom Establishment zurückgewiesen [17]. Die Mängel scheinen in den besonderen Therapierichtungen deutlicher spürbar zu sein als in der Schulmedizin, sei es, daß diese Therapieformen selbst sensiblere Forschungs-Methoden erfordern, sei es, daß die dort tätigen Methodologen selbst sensibler für solche Probleme sind.

Die Methodendiskussion zwischen Befürwortern und Kritikern der randomisierten Doppelblindstudie scheint ähnliche Formen anzunehmen wie der Streit zwischen Schul- und Alternativmedizin [3, 10]. Die Tatsache, daß die Vertreter der herrschenden Systeme in beiden Fällen die Kritik der Außenseiter zurückweisen, besagt sachlich nicht viel, da dies, wissenschaftssoziologisch betrachtet, deren natürliches Verhalten ist.

Es fragt sich, wie ernst die vorgebrachte Kritik zu nehmen ist, wie gravierend die Mängel sind. Es fragt sich, ob die Kritiker den Atem haben, ihre Argumente sachlich zu verbessern und sich mehr Gehör zu verschaffen. Es fragt sich aber auch, ob überhaupt Alternativen aufgezeigt werden können. Die Ansätze hierzu sind sehr verhalten. Drei Beispiele seien genannt. Zuerst sei die konkurrierende Therapieprüfung erwähnt [8], welche zahlreiche der genannten Mängel nicht besitzt. Bei dieser werden Medizinsysteme miteinander verglichen, die von verschiedenen Ärzten an verschiedenen Orten betrieben werden. Liebgewordene Standards der Behandlungs- und Erwartungsgleichheit der Patientengruppen gehen zwar verloren, dafür können aber die in Konkurrenz stehenden Therapieansätze in dem bereits besprochenen Sinne unter jeweils optimalen Bedingungen durchgeführt werden. Die Strukturgleichheit der Gruppen kann hinsichtlich bekannter und erfaßbarer Prognosefaktoren erreicht werden [1].

Weiter stehen zur Diskussion die single-case studies [10] und weiterhin eine ausgefeilte Form der Anwendungsbeobachtungen, siehe [2, § 67 (6)].

Die drei genannten Methoden sind jedoch weder für die Schulmedizin noch für die Komplementärmedizin genügend ausgearbeitet, als daß zum jetzigen Zeitpunkt von echten Alternativen die Rede sein kann.

Meine persönliche Meinung ist allerdings die, daß die Mängel des Konzepts der randomisierten Doppelblindstudie offenkundig und gerade in der naturheilkundlichen Forschung oft nicht hinnehmbar sind. Daraus folgt, daß die kritische Auseinandersetzung mit den methodologischen Grundlagen und die Suche nach neuen Prüfungsmethoden verstärkt werden sollte. In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig zu betonen, daß es nicht verschiedene Methodologien geben kann für verschiedene Richtungen in der Medizin, denn trotz unterschiedlicher Auffassungen gehe ich von dem Konvergenzprinzip aus, daß nämlich am Ende der Entwicklung Einigkeit bestehen wird über die eine Medizin, nämlich die, die dem Menschen nützt.
 
zum Anfang4 Besinnung
 
Im vorangehenden ist versucht worden, in aller Kürze einen Eindruck von den Schwierigkeiten der heutigen Methodologie-Diskussion zu geben. Die Tatsache, daß die sehr kritischen Denkanstöße derzeit von Methodologen kommen, die speziell mit den besonderen Therapierichtungen befaßt sind, ist interpretationsfähig. Daß die Debatte teilweise ideologische Züge annimmt, ist bedauerlich und überflüssig.

Es sei nun die Frage erlaubt: Wozu das alles? Wozu eine Methodologie-Diskussion, und wozu klinische Studien? Doch ohne Zweifel zur Verbesserung der Therapiemöglichkeiten der Medizin. Doch welcher Medizin?

Angesichts der unbefriedigenden Therapieerfolge der Schulmedizin bei so manchen Krankheiten ist die Suche nach anderen Ansätzen verständlich. Eine große Zahl alternativer Behandlungskonzepte ist bekannt. Merkwürdig ist, daß es für die nicht-schulmedizinischen Therapieformen in summa keine vollbefriedigende Bezeichnung gibt, was auch schon daraus hervorgeht, daß mehr als ein Dutzend Bezeichnungen gebräuchlich sind, siehe Tabelle 4. Jede dieser Ausdrucksweisen hebt einen Aspekt hervor; eine genaue Definition dessen, was eigentlich gemeint ist, ist fast unmöglich.

Ich möchte nun einen anderen Aspekt hervorheben, der in Tabelle 4 nicht enthalten ist, der mir aber der wichtigste von allen zu sein scheint. Ich möchte nämlich von einer menschenwürdigen Medizin sprechen und möchte sagen: Der Sinn aller Methodologie und aller Therapieprüfung ist es, dazu beizutragen, eine solche, dem Menschen gemäße Medizin zu etablieren und zu fördern.

Welches sind nun die Charakteristika einer solchen Medizin? In Tabelle 5 sind zuerst die Prinzipien der Naturheilkunde genannt, zu denen es vorrangig gehört, soweit wie immer möglich die Selbstheilungskräfte des Organismus zu aktivieren, statt Symptome zu unterdrücken und Organe zu entfernen. Gewiß gibt es Situationen, wo grob mechanische Störungen mit grob mechanischen Mitteln behoben werden müssen. Doch in vielen Fällen geht es auch anders und besser im Hinblick auf die Langzeitergebnisse.

Tab. 4 Verschiedene Namen für eine andere Medizin
Alternative MedizinAlternative Medizin, div. Bezeichnungen Unkonventionelle Medizin
Ganzheitsmedizin Integrale Medizin 
Erfahrungsheilkunde Naturheilkunde
Biologische Medizin Außenseitermedizin
Komplementärmedizin  Nicht-orthodoxe Medizin
Besondere Therapierichtungen  Paramedizin
Nicht etablierte Therapierichtungen  Sanfte Medizin
 
Tab. 5: Grundsätze einer menschenwürdigen Medizin
  • Selbstheilungskräfte aktivieren, 
  • nach ganzheitlichen Heilmethoden suchen, 
  • neben somatischen auch psychische, soziale und spirituelle Bereiche integrieren, 
  • vertrauensvolle, persönliche Arzt-Patienten-Beziehung, 
  • Selbstverantwortlichkeit des Patienten betonen hinsichtlich 
    1. Kenntnisstand,  
    2. Entscheidungsfreiheit, 
    3. aktiver Mitarbeit; 
  • gesundheitsfördernde Lebensführung statt Reparatur, 
  • Menschenwürde achten 
    1. im Leben, im Kranksein, im Sterben; 
  • Erkenntnisse der Nahtodesforschung und religiöse Erfahrungen berücksichtigen. 
In demselben Zusammenhang ist die Suche nach ganzheitlichen Heilverfahren zu sehen, bei denen nicht ein erkranktes Organ, nicht eine gestörte Funktion behandelt wird, sondern der Intention nach immer der Gesamtorganismus in seiner interaktiven Komplexität.

Neben somatischen Aspekten sollen in die Behandlung als mindestens gleich wichtig die psychischen, sozialen und spirituellen Bereiche der Persönlichkeit des Patienten einbezogen werden, um im besten Sinne von einer Ganzheitsmedizin sprechen zu können. Dabei kann die Eigenverantwortlichkeit des Patienten nicht genügend betont werden: Der Patient selbst ist die einzige Person, die für ihre Krankheit zuständig, verantwortlich und kompetent ist. Spezialisten für gewisse Teilaspekte kann er hinzuziehen. Die Eigenverantwortlichkeit des Patienten schmälert nicht, sondern stärkt die Fachkompetenz der beteiligten Ärzte. Eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung sollte selbstverständlich sein, nicht nur in Form des Vertrauens des Patienten in den Arzt, sondern auch in der Form, daß der Arzt dem Patienten vertraut.

Ein weiterer wichtiger Punkt einer sinnvollen Medizin ist die Erhaltung und Wiedergewinnung der Gesundheit durch eine entsprechende Lebensführung hinsichtlich des Essens und Trinkens, der körperlichen Bewegung, des Tagesrhythmus, der Genußgifte, der geistigen und sozialen Betätigung. Es ist leider festzustellen, daß weiteste Kreise der Bevölkerung sich bewußt genau entgegengesetzt verhalten, also gesundheitsschädlich. Der Umgang mit sich selbst stimmt dabei meist überein mit dem Umgang mit der Umwelt. Eine menschenwürdige Medizin ist notwendig ein Teil einer naturgemäßen Lebensweise, von der wir heute allerdings weiter entfernt sind als je.

Ein hohes Gebot ist die Achtung der Menschenwürde der Lebenden, der Kranken, der Sterbenden und der Verstorbenen. Die Erkenntnisse von Elisabeth Kübler-Ross und die Ergebnisse der Nahtodesforschung sollten allgemein bekannt sein und Beachtung finden. Weitergehende Konsequenzen des tibetanischen Totenbuches und der Reinkarnationsforschung sollten zumindest für möglich erachtet werden. Die religiösen Überzeugungen des Patienten sind unbedingt zu respektieren.

Soweit eine kurze Skizze dessen, was ich unter einer menschenwürdigen Medizin verstehen möchte.
 
zum Anfang5 Mein wichtigstes Anliegen zur Methodologie
 
Klinische Studien sind ein Teil und in gewisser Weise auch ein Spiegelbild der Medizin, so wie sie betrieben wird. Ich wünsche mir daher, daß die Grundsätze einer menschenwürdigen Medizin auch bei klinischen Studien beachtet werden, und daß die klinischen Studien dazu dienen mögen, eine menschengemäße Medizin zu etablieren (Tabelle 6).

Dieser Wunsch bezieht sich einmal darauf, wie in den klinischen Studien mit Menschen umgegangen wird, ob sie als teure Forschungsobjekte oder als leidende Mitmenschen betrachtet werden. Zum anderen bezieht sich dieser Wunsch auch auf die Zielsetzungen unserer Arbeit, auf die Art der Medizin, die wir unterstützen möchten, und auf den Umgang mit der Welt, in der wir leben.

Tab. 6 Mein wichtigstes Anliegen zur Methodologie
Beachtung der Grundsätze einer menschenwürdigen Medizin auch in der klinischen Forschung 
  • bezüglich der Forschungsmethoden, 
  • bezüglich der Zielsetzung. 
 
zum AnfangLiteratur

  1. Abel U, Windeler J (1995) Comprehensive Blinded Prognostic Rating - Eine Studienform für die nichtrandomisierte Bewertung von Therapien. In: Hornung J (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Komplementärmedizin. Schattauer Verlag, Stuttgart, S. 153-163
  2. AMG (1994) Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln, in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976 (BGBl. I S. 2445-2448), zuletzt geändert durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 9. August 1994 (BGBl. I S. 2071-2087); auch: Editio Cantor Verlag, Aulendorf
  3. Antes G, Edler L, Holle R, Köpcke W, Lorenz R, Windeler J (1995) Biometrische Berichte, Band 3: Biometrie und unkonventionelle Medizin. Landwirtschaftsverlag GmbH, Münster-Hiltrup
  4. Bundesärztekammer (1993) Memorandum: Arzneibehandlung im Rahmen "besonderer Therapierichtungen" - 2. Auflage. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
  5. Friedman LM, Furberg CD, DeMets DL (1985) Fundamentals of Clinical Trials. PSG Publishing Company, Inc., Littleton Massachusetts
  6. Hill AB (1990) Memories of the British Streptomycin Trial in Tuberculosis. The First Randomized Clinical Trial. Controlled Clinical Trials 11: 77-79
  7. Hornung J (1989) Zur Problematik der Doppelblindstudien. therapeutikon 3 (No.12): 696-701
  8. Hornung J (1990) Zur Problematik der Doppelblindstudien - 2. Mitteilung: Unorthodoxe Studienpläne. therapeutikon 4 (No.6): 355-360
  9. Hornung J (1994) Was ist ein Placebo? Die Bedeutung einer korrekten Definition für die klinische Forschung. Forschende Komplementärmedizin 1 (No.4): 160-165
  10. Hornung J (1995) Quo vadis Homöopathieforschung? Über klinische Studien und Arzneimittelprüfung am Gesunden in der Homöopathie. In Vorbereitung für Forschende Komplementärmedizin
  11. Hornung J (1995) Über Randomisation und Signifikanztests in klinischen Studien. Forschende Komplementärmedizin 2 (No.1): 6-11
  12. Kiene H (1993) Kritik der klinischen Doppelblindstudie. Medizin Verlag München
  13. Kiene H (1994) Komplementärmedizin-Schulmedizin. Der Wissenschaftsstreit am Ende des 20. Jahrhunderts. Schattauer Verlag, Stuttgart
  14. Kuhn TS (1967) Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
  15. Pocock SJ (1983) Clinical Trials. A Practical Approach. John Wiley & Sons, Chichester New York
  16. Rosenthal R (1976) Experimenter Effects in Behavioral Research. Irvington, New York
  17. Sewing KF (1994) Ungeeignet. Deutsches Ärzteblatt 91 (Heft 46):C-2007
  18. Walach H (1995) Verblindung in klinischen Homöopathie-Studien? In: Hornung J (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Komplementärmedizin. Schattauer Verlag, Stuttgart, S. 1-16
 
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