Lebensenergie und Radioaktivität im "ORANUR-Experiment"
Wilhelm Reichs Arbeit mit dem Geiger-Müller-Zähler und das Konzept einer Übererregung von Lebensenergie
 
Autor: Bernhard Harrer
Keywords: Wilhelm Reich, Lebensenergie, ORANUR-Experiment, Orgon, Orgonenergie, Geiger-Müller-Zähler, Lebensenergie, Vakuumröhren-Experimente, VACOR, Meßtechnik 
Abstract: Wilhelm Reichs Umgang mit Radioaktivität und ihrer Messung mit Geiger-Müller-Zählern in Reichs ORANUR-Experiment wird analysiert. Dabei werden systematische Meßfehler, Fehlbedienung der Geräte und gravierende Fehlinterpretationen der Meßwerte deutlich. Es wird diskutiert, wie hoch die radioaktive Strahlenbelastung war, der sich Reich in diesem Experiment aussetzte, mit dem er die Interaktion von Radioaktivität mit Lebensenergie untersuchen wollte. Ein direkter Nachweis für die Existenz einer spezifischen Lebensenergie ist Reich mit diesem Experiment nicht gelungen, denn alle Meßergebnisse entsprechen dem, was aus der bekannten Strahlenmeßtechnik zu erwarten ist.
Copyright: Bernhard Harrer, 1996
Info Jockey's  
Comment:
Da Reichs Beobachtungen sehr fehlerhaft sind, wie ausführlich an Hand der Originaltexte gezeigt wird, sollte aus ihnen keine Angstmacherei mit dem Schlagwort einer Übererregung von Lebensenergie betrieben werden, wie dies in einzelnen Publikationen seiner Anhänger z.B. in Bezug auf Leuchtstoffröhren geschehen ist. Angst ist sicher schädlicher für die Gesundheit als Leuchtstoffröhren (siehe: Lebensenergie, Orgonenergie und Elektrosmog). Dieser Artikel ist in veränderter Form erstmals erschienen in: Harrer, B; Rudolph, Chr.: Über Wilhelm Reichs Oranur-Experiment (I); (1997) Zweitausendeins Frankfurt a.M., S.42-50 - Exkurs III. Er kommentiert insbesondere die Seiten Seiten 36 ff von: Reich, Wilhelm: Das ORANUR-Experiment, erster Bericht [IJBH]
09. Jun. 1998 
 
 
 
»Der häufigste Fehler, der zu Beginn von Strahlungsmessungen gemacht wird, besteht darin, daß an die Strahlendetektoren eine zu hohe Spannung gelegt wird. Dies führt in Zählrohren zu Spontanentladungen und in Szintillationszählern zu Spannungsüberschlägen. Die Folge davon kann eine Zerstörung oder Wertminderung des Detektors sein. Daher ist vor dem Einschalten der Hochspannung darauf zu achten, welcher Spannungswert eingeschaltet ist.« 

aus: H. Muschter, Elektronische Zählgeräte für Kernstrahlung, 1960.

 
 
Im Oranur-Experiment berichtet Reich über eine Reihe von physikalischen Experimenten, die er seit 1938 mit dem Ziel durchführte, einen endgültigen physikalisch-meßtechnischen Beweis für seine These einer spezifischen Lebensenergie zu finden. Die dabei entstandenen Versuchsdesigns beschrieb er in seinem Buch Der Krebs und in Beiträgen zu seiner Zeitschrift Orgone Energy Bulletin, worin auch der erste Bericht über das Oranur-Experiment erschienen ist.

Seine Versuche nachzuvollziehen ist nicht einfach. Reich war kein ausgebildeter Physiker. Die Dokumentationen seiner Versuche sind aus diesem Grund zuweilen unzureichend. In den Jahren 1990 bis 1994 habe ich in Berlin viele Experimente Reichs nachgebaut. Um die Vakuumröhren-Experimente (VACOR) und den Orgon-Motor zu verstehen, mußte ich Reichs Originalaufbauten im Reich-Museum in Rangeley, Maine, USA, untersuchen. Im Sommer 1993 konnte ich dort drei Tage lang die ausgestellten Versuchsaufbauten und zum Teil auch das Innenleben der verwendeten Meßgeräte studieren. (siehe hierzu auch: Lebensenergie und Vakuum: Über die VACOR-Versuche in Wilhelm Reichs ORANUR-Experiment sowie: Die motorische Kraft der Orgonenergie: Der Orgonmotor von Wilhelm Reich).

Reichs experimenteller Ausgangspunkt im Oranur-Experiment ist der Geiger-Müller-Zähler. Dieser besteht erstens aus einer Röhre mit einer bestimmten Gasfüllung bei niedrigem Druck, an die eine Hochspannung (meist 500 bis 1000 Volt) angelegt wird, zweitens aus einem elektrischen Schaltkreis (inklusive Hochspannungsgenerator), der die elektrischen Impulse aus dem Zählrohr verstärkt und formt, und drittens aus einer Anzeigeeinheit, welche die registrierten Impulse zählt (bei Reich in Impulsen pro Minute: counts per minute, cpm) oder die Strahlungsdosisrate angibt (bei Reich in Milliröntgen pro Stunde, mR/h oder mr/h). Trifft radioaktive Strahlung auf das Füllgas, werden Gasmoleküle ionisiert, das Füllgas wird elektrisch leitend und löst einen Spannungsüberschlag in Form einer Gasentladung (Glimmlicht) aus, die als elektrischer Impuls vom Zählerschaltkreis verstärkt und angezeigt wird. Eine solche Gasentladung erscheint als Lichtblitz; sie ist auch das zugrundeliegende Prinzip der Glimmlampen und der Leuchtstofflampen. Vakuumröhren sowie Leuchtstoffröhren leuchten, wenn ein geeignetes elektrisches Feld im Gas eine Gasentladung auslöst. Bei niedriger relativer Luftfeuchtigkeit kann bereits das Reiben einer Leuchtstoffröhre mit einem trockenen Fell diese zum Aufleuchten anregen, wenn die durch Ladungstrennung beim Reiben (Triboelektrizität) auftretenden elektrischen Feldstärken groß genug sind. (vergl. Seite 57, Zeile 12; Seite 46, Zeilen 9 ff  in Reich, Wilhelm: Das ORANUR-Experiment, erster Bericht)

Wenn es durch ionisierende Strahlung in einem Geigerzählrohr zum Zünden der Gasentladung gekommen ist, muß die Ionisierung des Füllgases durch Herabsetzung der Spannung so schnell wie möglich gelöscht und die verbliebenen Ionen müssen abgesaugt werden, um kurze verläßliche Impulse zu gewährleisten. Um dies zu erreichen, wird bei den ursprünglichen nichtselbstlöschenden Zählrohren der Arbeitswiderstand im Zählrohr mit etwa 108 Ohm so groß gewählt, daß die Spannung von selbst zusammenbricht und erst nach Millisekunden den alten Wert erreicht, mit dem Nachteil einer verlängerten Totzeit. Bei den erst 1935 entwickelten selbstlöschenden Zählrohren wird dem Füllgas ein, spezielles Löschgas zugesetzt. Mit jedem Zündimpuls wird Löschgas abgebaut, so daß selbstlöschende Zählröhre eine charakteristische Lebensdauer mit einer begrenzten Anzahl an Impulsen haben (z.B. 109). Typische Totzeiten liegen zwischen 10 und 100 µs für selbstlöschende und 1 ms für nichtselbstlöschende Zählrohre. Die maximalen Impulsraten sind also typenabhängig und liegen zwischen 60.000 und 6.000.000 cpm. Die maximale Impulsrate von Reichs nichtselbstlöschenden Zählern liegt mit 100.000 und 300.000 cpm genau in dem Bereich, in dem man sie erwarten würde.

Die Zählrate eines Geiger-Müller-Zählrohres ist von seiner Bauart abhängig; je nach Anwendungsgebiet werden Zählrohre mit sehr dünnen Glimmerfenstern hergestellt, die Alpha, Beta und Gammastrahlung registrieren, während dickwandige Zählrohre nur auf Gammastrahlung reagieren. Reich verwendete unterschiedliche Geigerzählertypen und erhielt deshalb im einen Fall 300.000 cpm, mit dem anderen Gerät 100.000 cpm. (Seite 217)

Beide Zählraten sind zu hoch, um eine wirkliche Aussage über die Aktivität der Quelle zu erlauben. Aus den identischen Zählraten für 1 mg und 1 microg Radium (Tabelle 22, Seite 215) ist ersichtlich, daß diese Zählraten für das jeweilige Gerät den absoluten Höchstwert (Vollausschlag) bilden; die Geräte wurden also falsch eingesetzt. Das Strahlenlaboratorium in New York hingegen (Seiten 147, 217) hatte ein sehr unempfindliches Gammastrahlen-Zählrohr eingesetzt, wie es für diese starke Strahlenquelle angemessen war. Dessen Zahlen zeigen, daß die Gammastrahlung von diesem 1 mg Radium durch eine Bleiabschirmung von einem halben Zoll (etwa 13 mm) nicht abgehalten, sondern nur auf etwa die Hälfte (7/16) abgeschwächt wurde. Reichs Aussage (Seite 217), daß diese radioaktive Quelle in seinem Labor fünf- bis zwanzigfach soviel gestrahlt habe wie in New York, zeigt, daß er die geräteabhängigen Impulsraten (cpm) miteinander vergleicht, nicht die geräteunabhängigen, kalibrierten Dosisraten (mR/h). Das deutet auf völlige Unkenntnis auf dem Gebiet der Strahlenmeßtechnik hin.

Auch mit der Theorie der Meßtechnik im allgemeinen scheint sich Reich nicht vertraut gemacht zu haben; denn schon damals war es in der Physik längst üblich, zu Meßwerten auch die Fehlertoleranzen und die Meßbedingungen anzugeben. Das versäumte er, wie z.B. an Tabelle 19 (Seite 207) deutlich wird:

In der ersten Zeile werden 60­80 cpm mit 0,004 mR/h gleichgesetzt; in der zweiten Zeile werden 60 cpm gar nicht in mR/h ausgedrückt; in der dritten Zelle werden 60­80 cpm mit 0,02 mR/h gleichgesetzt; in der vierten Zeile werden 100 cpm mit 0,02 mR/h gleichgesetzt.

Das dabei verwendete Meßgerät ließ es zu, zwischen cpm- und mR/h-Anzeige umzuschalten; ein solches Gerät ist im Reich-Museum ausgestellt. Der statistische Fehler einer solchen Messung wird zweckmäßigerweise als relativer Fehler angegeben, also als Abweichung vom Erwartungswert der Meßgröße. Er beträgt bei Einzelzählung

wobei N die Anzahl der Impulse ist und für Sigma als Wahrscheinlichkeitsfaktor der für Geigerzähler übliche Wert von 2 einzusetzen ist.

Wenn Reich in einer Minute also 80 Impulse zählt, müßte er als Meßwert 80 cpm ± 23 Prozent angeben, sofern das Meßgerät bei allen Messungen denselben Bedingungen ausgesetzt ist (Temperatur, Feuchtigkeit, Spannungsversorgung), sonst vergrößert sich der relative Fehler. Die unterschiedlichen Werte in Zeilen 1­4 dieser Tabelle täuschen Exaktheit vor; besser wäre, in jede Zeile 80 ± 20 cpm zu schreiben, woraus ersichtlich wäre, daß die Meßwerte aller vier Zeilen den selben Strahlungswert angeben, nämlich die Hintergrundaktivität, die sich über den Meßzeitraum offensichtlich nicht verändert hat. Die Hintergrundaktivität eines Ortes zu einem bestimmten Zeitpunkt ist vom Ausgasen des Radon aus dem Boden, von der Radioaktivität des Untergrundes und von der einfallenden kosmische Strahlung abhängig. Der Radonanteil wiederum ist von der Luftbewegung und der Durchmischung mit Luft aus höheren Atmosphärenschichten abhängig, schwankt also mit dem Wind und der Wetterlage.

Schon »drei Tagen nach Eintreffen« (Seite 57) scheint Reich sein neues Zählrohr ruiniert zu haben. Wie er das gemacht hat, ist in Tabelle 1 (Seiten 57 ff.) und Abbildung 14 (Seite 82) dokumentiert: Jedes Geigerzählrohr hat einen typabhängigen Spannungsbereich, das sogenannte Plateau, in dem sich das Rohr als Geigerzählrohr betreiben läßt. Das Plateau beginnt mit der Schwellenspannung (Reich: Meßschwelle, M.S.) und ist bauteilabhängig etwa 150 bis 350 Volt lang (die sogenannte Plateaulänge oder auch Plateaubreite). In der Mitte dieses Bereiches liegt die für jedes Zählrohr charakteristische, optimale Spannung für einen verläßlichen Betrieb (Reich: Meßoptimum, M.O.). Diese Spannungswerte werden vom Hersteller angegeben. Um ein Zählrohr auf Funktionstüchtigkeit zu prüfen, ist es zulässig, die Spannung innerhalb der Plateaulänge zu variieren und die Zählraten in einer Grafik (cpm über Volt) einzutragen, wie Reich das in Abbildung 14 (Seite 82) getan hat. Wird die Spannung über das Plateau (also den annähernd waagrechten Bereich zwischen 700 und 900 Volt) hinaus erhöht, so verhält sich das Rohr nicht mehr als Zählrohr, sondern als Glimmlampe, die bei steigender Spannung durch stärkeren Stromfluß immer schnellere Folgen von Lichtblitzen im Innern erzeugt, welche das Rohr als Zählrohr unbrauchbar werden lassen, aber hohe Impulsraten liefern können. Reich berichtet (Seite 56, Mitte), daß er die Spannung bis 1500 Volt erhöht habe. Dies kann einige Male gut gehen; aber über kurz oder lang werden die »ängstlichen >Kritiker<« (Seite 56, unten) recht behalten: Mit jedem Betrieb oberhalb des Plateaus verändert sich das Rohr durch Alterung, bis schließlich sein Verhalten gänzlich unvorhersehbar wird. Ob Impulse auf ionisierende Strahlung zurückzuführen sind oder spontan, beispielsweise durch Spannungsschwankungen auftreten, ist dann nicht mehr zu unterscheiden. Beispiel für ein solches unvorhersehbares Verhalten ist der Ausbruch von 60 Impulsen pro Sekunde (Seite 57), der wahrscheinlich durch Einkopplung von 60 Hz Netzbrumm aus dem Transformator der Spannungsversorgung entstanden ist. Aus diesem Passus des Textes wird ersichtlich, daß Reich unwissentlich (aber zielsicher) seine Zählrohre zerstört und auf diese Weise bei überhöhten Spannungen hohe Umdrehungszahlen seines Zeigerinstrumentes erhalten hat (Cyclotron, als Bild in: Die motorische Kraft der Orgonenergie: Der Orgonmotor von Wilhelm Reich). Entsprechend erfindet er eine Rotationsschwelle (Seite 58) und definiert sie als die Spannung, bei der sich der Zeiger des Cyclotron-Zählers langsam dreht (etwa 1500 cpm), und ein Rotationsoptimum, aus dem ersichtlich wird, daß die Zählrate nicht linear mit der Spannung steigt.

In Abbildung 12 (Seite 79) zeigt Reich, daß er bei geringeren Spannungen weit höhere Zählraten erzielt, als der von ihm zitierte Hoag sie in seinem damals schon neun Jahre alten Buch beschreibt. Wiederum geht Reich darüber hinweg, daß erstens unterschiedliche Zählrohrtypen auch unterschiedliche Kennlinien (Schwelle, Plateau, Empfindlichkeit etc.) haben, und Zählrohre zweitens nicht entwickelt wurden, um möglichst schnell aufzublitzen, sondern um ionisierende Strahlung eines bestimmten Energiespektrums zu registrieren.

Der ORANUR-Effekt
Der Schlüssel zum Verständnis, warum Reich die Theorie einer Übererregung atmosphärischer Lebensenergie (ORANUR-Effekt) entwickelte, liegt einerseits in seiner Interpretation der Erkrankung der beteiligten Personen und Mäuse, und andererseits in seiner Deutung der Meßwerte (Tabelle 22, Seite 215). Hier beobachtet er, daß dieselbe Strahlenquelle aus einem Zentimeter Entfernung gemessen ohne halbzollige Bleiabschirmung eine geringere Zählrate ergibt (l/10 oder etwa 30.000 cpm) als mit Bleischirm (etwa 300.000 cpm). Er schließt daraus: »Es ist die OR-Energie der Atmosphäre in der Umgebung des NR-Materials, welche am Geiger-Müller-Zähler reagiert.« (Seite 217, OR für orgone radiation, NR für nuclear radiation) Dieser Schluß ist sicherlich eines der zentralen Argumente im ganzen Oranur-Experiment, auf ihn stützt sich Reichs Theorie des ORANUR-Effekts. Trotzdem ist dieser Schluß unzulässig. Denn ein solches Verhalten des Geigerzählers ist keineswegs ungewöhnlich. Voraussetzung ist, daß ein empfindliches Zählrohr verwendet wurde: Reich setzt hier den Geigerzähler Autoscaler mit einem alpha-, beta- und gamma-empfindlichen Zählrohr mit Glimmerfenster ein (Seite 149). Mit Bleischirm reagiert der Zähler nur auf den Gamma-Anteil der Strahlung und ist trotzdem an seiner oberen Meßgrenze (Vollausschlag). Da Radium und sein Zerfallsprodukt 222Radon starke Alpha-Strahler sind und darüber hinaus eine solche Quelle auch Beta-Anteile hat, folgen ohne Bleischirm die Ionisationen im Zählrohr so rasch aufeinander, daß die Zeitspannen zwischen ihnen kürzer werden als die für die Regeneration des Füllgases im Zählrohr nötige Mindestzeit (die sogenannte Totzeit). Dadurch kommt es zu einem Ineinanderübergehen der einzelnen Impulse, und es können sogar Dauerentladungen auftreten. Der Zähler zeigt in diesem Fall keine Impulse mehr an. Erst Lücken zwischen zwei Ionisationen, die länger als die Totzeit dauern, würden wieder als Impuls vom Zähler registriert werden. Mit anderen Worten: Der Geigerzähler ist überlastet und registriert bei steigender Strahlungsintensität immer weniger Impulse. Für den Experimentator gilt dies allerdings nicht: Ohne Abschirmung haben Reich und seine Mitarbeiter nicht nur hohe Strahlendosen über sich ergehen lassen, sondern möglicherweise auch ihre Lungen mit 222Radon belastet (das übrigens auch Bleiabschirmungen durchdringt, wenn diese nicht gasdicht ausgeführt sind), »ein feuchtes Tuch über Mund und Nase« (Seite 212) ist dabei wenig hilfreich.

Wie groß die tatsächliche Strahlenbelastung von Reich und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war, ist schwer nachzuvollziehen, denn Reich legt mit diesen Texten keine strukturierten Versuchsprotokolle vor, sondern eher subjektive Beobachtungen. Beispiel ist Reichs Angabe von 8,3 R/h für die 1 mg Radiumprobe. Eine solche Dosisangabe ist nur in Verbindung mit einer Entfernungsangabe sinnvoll, da die Strahlung mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt. Für altes (d. h. sich in Sättigung mit seinen Zerfallsprodukten befindendes) 226Radium gilt der Gamma-Dosis-Leistungsfaktor von 0,825 Rm2/h/g. Ein kalibrierter Geigerzähler hätte für Reichs 1 mg Radium in 1 mm Entfernung 825 R/h, in 1 cm Entfernung 8,25 R/h, in 1 m Entfernung 0,825 mR/h, in 10 m Entfernung 8,25 µR/h angezeigt. Reichs Angabe von 8,3 R/h bezieht sich also auf 1 cm Entfernung und stammt offensichtlich vom Lieferanten des Radiums. Die halbzöllige Bleiabschirmung hätte den Gamma-Strahlungsanteil auf jeweils 7/16 reduziert. (Seite 147, Fußnote) Zum Vergleich: Die natürliche Erdstrahlung hat in Berlin eine Ortsdosisleistung von 7 bis 8 µR/h.

Kann eine solche Strahlungsquelle akute Strahlenkrankheit oder Langzeitfolgen auslösen? Diese Frage ist kaum zu beantworten, denn es fehlen Angaben, wie lange und in welcher Entfernung Reich sich selbst, seine Mitarbeiter oder die Mäuse der Strahlenquelle aussetzte. Sicher ist, daß er die Quelle für ziemlich ungefährlich hielt und sie auch ohne abschwächenden Bleischirm einsetzte, wodurch er sich neben dem Gamma-Anteil auch der Alpha- und Beta-Strahlung aussetzte.

Seine oben diskutierte Schlußfolgerung einer Übererregung der atmosphärischen Orgonenergie, die nur auftritt, wenn Radioaktivität auf konzentrierte Orgonenergie trifft, läßt Reich in den Jahren nach dem Oranur-Experiment auf Bleiumhüllungen verzichten, denn jegliches Metall, so seine Theorie, würde Orgonenergie akkumulieren. Er nannte eine dieser Radiumproben später ORUR und verwendete sie weiterhin für mehrere Experimente in Arizona, wobei das Radium nicht mehr in Blei, sondern nur in einem Holzbehälter gelagert wurde (siehe Reich, Wilhelm: Das Oranur-Experiment. Zweiter Bericht). Reich scheint sich und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter also wiederholt einer relativ hohen Strahlung ausgesetzt zu haben. Die insgesamt 108 Bq Radium, die Reich besaß, sollten bei vorsichtigem Gebrauch nicht zu akuten Strahlenschäden führen, vorausgesetzt, die blutbildenden Organe (Plattenknochen) würden keiner Dauerbestrahlung ausgesetzt. Die Dosis, die bei der Hälfte der betroffenen Personen zum Tod führt, die sogenannte LD50, liegt für den Menschen bei etwa 500 R bei Ganzkörperbestrahlung. Sie mit 3 mg Radium zu erreichen ist nicht möglich. Allerdings kann es bei Langzeitbestrahlung auch bei weit niedrigeren Dosen zu gesundheitlichen Schäden kommen (siehe Graeub, Ralph: Der Pettkau-Effekt).

Daß es auch durch niedrige Radioaktivität zu subtilen energetischen oder informatorischen Störungen in biologischen Prozessen kommen kann, ist in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden. Ob tatsächlich eine Veränderung von energetischen Lebensprozessen während des ORANUR-Experimentes aufgetreten ist, kann nicht ausgeschlossen werden, weder Verifikation noch Falsifikation ist aus Reichs Bericht heraus ableitbar. Sowohl Wilhelm Reich, als auch seine Tochter Eva Reich berichten von massiven Beeinträchtigungen von Gesundheit und Wohlbefinden, welchen Einfluß Erwartungshaltungen und Psychosomatik dabei gespielt haben, bleibt offen. Da Reichs Beobachtungen allerdings sehr fehlerhaft sind, sollte aus ihnen keine Angstmacherei mit dem Schlagwort einer Übererregung von Lebensenergie betrieben werden, wie dies in einzelnen Publikationen seiner Anhänger in Bezug auf Leuchtstoffröhren geschehen ist, denn Angst ist sicher schädlicher für die Gesundheit als Leuchtstoffröhren (siehe: Lebensenergie, Orgonenergie und Elektrosmog).

Literatur:

 
zum Anfang
copyright: Harrer 1998 eMail: webmeister@datadiwan.de