Quantentheorie der Information

Autor: Werner Held
Keywords: Weizsäcker, Lyre, Informationstheorie, Quantenphysik
Abstract:

Eine Zusammenfassung der abstrakten Informationstheorie des C. F. v. Weizsäcker-Schülers Holger Lyre, der vollständigen Informationsbegriff skizziert, mit welchem versucht wird, die klassische Informationstheorie mit der quantenphysikalischen Ur-Theorie Weizsäckers zu vereinigen.

Copyright: Werner Held
 
9. Mai 2001 
Übersicht Experten

Inhalt:

weitere Links zu Werner Held:

Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß sich um den Begriff der Information einige Unklarheiten ranken. Manche mögen sogar behaupten, daß man überhaupt nicht weiß, was Information überhaupt sein soll. Etwas vorgreifend möchte ich meinen, daß Information trotz aller hier vorgestellten Definitionsversuche im Kern ungreifbar bleiben wird. Doch zunächst der Reihe nach. Der Alltagsgebrauch scheint der Verwendung in den verschiedenen wissenschaftlichen Informationstheorien völlig zu widersprechen. Höchste Zeit also, den Begriff der Information zu klären, schließlich besteht weitgehende Übereinkunft, daß wir in einer Informationsgesellschaft leben. Man sollte also schon einmal die eigentliche Basis unserer Epoche in den Blick nehmen. Dies werden wir anhand der abstrakten Informationstheorie Holger Lyres versuchen, die eine mathematische Grundstruktur mit philosophischer Logik verbindet. Er beleuchtet im 1. Teil verschiedene Informationstheoretische Ansätze und systematisiert diese mit den philosophischen Argumenten der Weizsäckers (Carl Friedrich, Ernst Ulrich und Christine von Weizsäcker) und formuliert daraus einen "vollständigen Informationsbegriff". Außerdem entwickelt er C.F. von Weizsäckers Ur-Theorie in 19 Punkten weiter, an der er sich weitgehend orientiert. Diese wollen wir im 2. Teil darstellen. Lyres Panorama mit verschiedensten Arbeiten zum Informationsbegriff schafft es, eine kompakte Zusammenfassung unter der primären Unterscheidung Potentialität-Aktualität zu erstellen.

Diese Unterscheidung erlangt immer größere Bedeutung in den Wissenschaftsbereichen, die sich mit der Erzeugung der Wirklichkeit, wie wir sie kennen, auseinandersetzt. Daher stoßen philosophischen Erkenntnisinteressen in vielen Bereichen an diesen Schnitt, sei es beim quantenphysikalischen Beobachtungsprozeß, bei der Bewußtseinsforschung in der Neurophilosophie und den Neurowissenschaften oder bei modernen erkenntnistheoretischen und logischen Arbeiten (Differenztheorien, die Differenzlogik Spencer Browns). Aus diesem Grund ist es von großem Interesse was hierzu zeitgemäße, d.h. nichtklassische informationstheoretische Modelle beizusteuern haben.

1. Vollständiger Informationsbegriff

 Wenn vom Informationsbegriff in der Wissenschaft die Rede ist, denkt man im allgemeinen an die nachrichtentechnische Begründung der Informationstheorie durch Claude Shannon (1948). Dieser legte aber ein völlig bedeutungsfreies, rein quantitatives Konzept vor, das nur die Signaldurchlaßeigenschaften eines Übertragungskanals behandelte. Spätere Arbeiten, die Shannons Eindimensionalität ergänzten, erreichten bei weitem nicht diese Beachtung. Gerade die Arbeiten von Carl Friedrich und Ernst Ulrich von Weizsäcker sind dabei besonders zu betonen. Holger Lyre, ein ehemaliger Student von C. F. Weizsäcker bildet nun in seiner Quantentheorie sehr umfassend die weiteren Aspekte des Informationsbegriffs ab und stellte die zentrale Bedeutung des Informationsbegriffs bei der Überwindung der Subjekt-Objekt-Trennung heraus, denn Information als Konzept vereinigt beide Seiten dieser Unterscheidung. Information ist weder ausschließlich subjektiv oder ausschließlich objektiv zu begreifen. Information muß auch als eine von Materie und Bewußtsein unterschiedene dritte Sache aufgefaßt werden. Ein kleines Beispiel mag dies verdeutlichen. Wenn uns jemand ein Telegramm schickt mit dem Satz "Ich liebe Dich", wo ist dann die Information? Sie kann nicht auf das Bewußtsein beschränkt sein, denn es sind zwei verschiedene Bewußtseinsakte beteiligt. Die Information ist aber auch nicht auf die Materie zurückzuführen, die Information liegt nicht in der Druckerschwärze, denn die ist bei der Aufgabe des Telegrams und dem Zielort verschieden. Weizsäcker sieht die Information als den beiden Personen gemeinsames Wissen. Wie naheliegend, aber problematisch eine solche Annahme ist werden wir später sehen.

 Lyre folgt auch in einem weiterem Punkt Weizsäcker, er ordnet in Anlehnung an das Meßproblem in der Quantenphysik (und den dortigen Übergang von der Potentialität zur Aktualität) der Information die Leitdifferenz potentiell-aktuell zu. Diese Unterscheidung bildet den Kern seiner Überlegungen. Der Geltungsbereich der Theorie ist das prinzipiell empirisch Wißbare, auch wenn es nicht gerade durch aktive Kenntnisnahme zu einer aktuellen Information gekommen ist.

Informationstheorie erfreuen sich immer größerer Beachtung in der Quantenphysik. Doch im Gegensatz zu verschiedenen anderen informationstheoretischen Ansätzen, die teils nur eine Reformulierung der Quantentheorie unter informationstheoretischen Termini bedeuten (Atmanspacher, Bennett, Wotters und Zurek und Wheeler) stellt Weizsäckers & Lyres Theorie neben Finkelstein eine eigenständige Neufassung der Quantentheorie dar.

1.1. Definition: Information

Doch zuerst wollen wir vergegenwärtigen, was der Begriff eigentlich bedeutet. Information stammt von den lateinischen Begriffen informatio (1.Vorstellung, Begriff; 2. Unterweisung, Belehrung) und informare (1. formen, bilden, gestalten; 2. vorstellen; 3. unterrichten). In der Scholastik wurde informatio philosophisch abstrakt als "Gestaltung der Materie durch die Form" verstanden. Diese inzwischen wieder sehr wichtige Bedeutung des Informationbegriffs ging im neuzeitlich-erkenntnistheoretischen Verständnis Descartes verloren. Hier fand sich nur noch die Bedeutung als "Wissensvermittlung". Die später erfolgte Abspaltung pädagogischer Betonung ("unterrichten") führte dann zur modernen Bedeutung "Nachricht" oder "Mitteilung", die auch Shannon zugrunde legte. Wir wollen vorgreifend erwähnen, daß Lyre mit der Übertragung des Informationsbegriffs auf die Quantentheorie wieder auf die Bedeutung stößt, die seit der Scholastik verloren schien. Information als Bezeichnung für den Formbildungsprozeß der Materie. Weizsäckers Definition heißt dementsprechend: "Information ist das Maß einer Menge von Form ... Form ist weder Materie noch Bewußtsein, aber sie ist eine Eigenschaft von materiellen Körpern, und sie ist für das Bewußtsein wißbar. Wir können sagen: Materie hat Form, Bewußtsein kennt Form".

Die oben erwähnten Erweiterungen der Weizsäckers errichteten eine Dreigliedrigkeit des Informationsbegriffs (sie folgen damit der Unterteilung des Semiotikers Charles William Morris): Information weist demnach 3 Dimensionen auf:

1. Syntaktik: sie betrifft das Auftreten von einzelnen Informationseinheiten und deren Beziehungen untereinander
2. Semantik: sie betrifft die Bedeutung der Informationseinheiten und ihre Beziehungen untereinander
3. Pragmatik: sie betrifft die Wirkung der Informationseinheiten und ihre Beziehungen untereinander.

Dem syntaktischen Aspekt (Shannon) haftet ein eher objektiver, dem semantischen Aspekt ein eher subjektiver Charakter an. Die Pragmatik erfaßt dann den dynamischen Aspekt der Information.

1.1.1. Syntaktischer, nachrichtentechnischer Aspekt der Information

Shannon legte 1948 sein Werk A Mathematical Theory of Communication vor, das inzwischen zum Klassiker geworden ist. Hierin konnte er in technischer Hinsicht den Informationsgehalt quantisieren, indem er ein logarithmisches Maß für den Informationsgehalt angeben konnte. Gemessen wird der Informationsgehalt in Bits (binary digits = Binärziffern). Ein bestimmter Informationsgehalt z.B. 3 Bits läßt sich so interpretieren, daß man 3 Binärentscheidungen treffen muß, um ein Zeichen aus acht möglichen auszuwählen. Ein Buchstabe hätte demnach ca. 5 Bits (1 aus 26 möglichen)

Seine Theorie galt der Auftretenswahrscheinlichkeit eines Zeichens innerhalb eines Zeichenvorrats, also dem Erwartungswerts des Informationsgehalts. Die Formel dafür lautet I = -ld p = ld n. Mit anderen Worten: den negativen dualen Logarithmus der Zeichenwahrscheinlichkeit. Daraus folgt, daß der nachrichtentechnische Informationsgehalt keine absolute Größe ist, er hängt immer ab von der Festlegung eines Zeichenvorrats (z.B. Alphabet) und der dazugehörigen Wahrscheinlichkeitsverteilung über der Zeichenmenge (das heißt: die Auftretenswahrscheinlichkeit eines E in der Sprache ist viel höher als die eines Y, also hat EEEEE geringeren Informationsgehalt als YYYYY. Doch ist z.B. die Auftretenswahrscheinlichkeit des Y im Englischen höher als im Deutschen, also hat das Y ein höheres Informationsmaß als im Englischen). Diese Festlegungen entsprechen einer gemeinsamen semantischen Ebene, die also immer beteiligt sein muß, wenn man ein intersubjektiv nachprüfbares Informationsmaß erhalten will). Permutationen innerhalb der Zeichenmenge können damit nicht berücksichtigt werden, was zum Beispiel der Zeichenkette beispiel keinen anderen Informationsgehalt beimißt als der Zeichenkette spielbei oder seeiiblp. An Shannons Theorie ist schon immer irritierend gewesen, daß ein Text, den ein Affe geschrieben hat, mehr Information enthalten soll, als der eines berühmten Autors. Denn es ist wahrscheinlich, daß der Text eines Affen kein System aufweist, deshalb läßt er sich nicht kürzer sagen. Der Text des Autors enthält hingegen Redundanzen und ermöglicht daher eine kürzere Darstellbarkeit.

Warren Weaver, der Mitherausgeber von Shannons Theorie drückte den nachrichtentechnischen Aspekt der Information so aus: "Das Wort Information wird in dieser Theorie in einem besonderen Sinn verwendet, der nicht mit dem gewöhnlichen Gebrauch verwechselt werden darf. Insbesondere darf Information nicht der Bedeutung gleichgesetzt werden. Tatsächlich können zwei Nachrichten, von denen die eine von besonderer Bedeutung ist, während die andere bloßen Unsinn darstellt, in dem von uns gebrauchten Sinn genau die gleiche Information enthalten". Er schreibt weiter: "Information in der Kommunikationstheorie bezieht sich nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern mehr auf das, was gesagt werden könnte. Das heißt, Information ist ein Maß für die Freiheit der Wahl, wenn man eine Nachricht aus anderen aussucht".

Weaver war es auch, der der Information drei Ebenen zuwies, die technische, die semantische und eine Ebene der Effektivität. Eine Dreiteilung, die genau unserer Unterteilung entspricht. Und er ließ keinen Zweifel daran, daß Shannon nur den ersten Aspekt abdecken konnte. Shannons Theorie wurde also dazu verwendet, daß genügend Leitungskapazität eines Kanals in einem Sender-Empfänger-Modell berechnet werden konnte. Das Informationsmaß Shannons entspricht bis auf eine Konstante dem Entropiemaß in der Thermodynamik, auch daraus läßt sich erkennen, daß es nicht mit sinnvoller Ordnung gleichgesetzt werden kann, sondern daß Information hier analog dem Maß an Unordnung gesetzt wird. Daher ist auch der Name Informationsentropie für Shannons Informationsmaß geläufig. Leon Brilloun störte dieser offensichtliche Widersinn zwischen Alltagsbedeutung der Information als eine sinnvolle Ordnung und der Shannonschen Bedeutung, so drehte er das Vorzeichen in der Entropie-Gleichung um und nannte das Resultat "das negentropische Prinzip der Information". Negentropie und sinnvolle Information setzte er damit gleich. Die Begriffsverwirrung um den Informationsbegriff und über das positive/negative Vorzeichen schien komplett, bis C. F. von Weizsäcker den klärenden Vorschlag unterbreitete, Entropie als potentielle Information und Negentropie als aktuelle Information zu bezeichnen.

Damit ließe sich zusammenfassen: Die nachrichtentechnische Informationstheorie ist eine Theorie potentieller Information unter dem syntaktischen Aspekt.

1.1.2. Semantischer Aspekt der Information

Lyre stellt das Weizsäcker Zitat voran: "Information ist nur, was verstanden wird". Wie wir beim Kapitel über den syntaktischen Aspekt gesehen haben, ist es dort zwingend nötig, daß Sender und Empfänger die gleiche semantische Ebene benutzen, das heißt, sie müssen sich verstehen. Lyre nennt eine semantische Ebene eine weitgehend stabile Anhäufung von Bits. Information stellt also keinen Absolutbegriff dar, sondern ist immer kontextbezogen. Nur wenn klar ist, auf welchen jeweiligen Kontext Information bezogen ist, ist sie berechenbar. Zum Beispiel ist ein "A" nur bezogen auf seine Auftrittswahrscheinlichkeit im Alphabet berechenbar, wenn wir aber das "A" bezogen auf den Kontext "allgemeine Symbole aus Strichen" sehen, geht die spezielle Bedeutung als "Buchstabe A" verloren. Das läßt aber die Frage offen, wie semantische Ebenen überhaupt entstehen. Dazu muß der ebenso notwendige pragmatische Aspekt der Information miterfaßt werden.

1.1.3. Pragmatischer Aspekt der Information

Dieser dynamische Aspekt wurde bislang sträflich vernachlässigt, zusammenfassen ließe er sich mit dem C. F. Weizsäcker Zitat: "Information ist nur, was Information erzeugt". Der Wirkaspekt der Information liegt im Verstandenwerden, darin läßt sich die enge Verknüpfung zum semantischen Aspekt aufzeigen. Die Objektivierbarkeit der semantisches Ebene läßt sich über die pragmatische Wirkung erreichen, weil diese ja physikalisch ansehbar und gegeben ist. Die Ausdifferenzierung der pragmatischen Information ist aber dann Christines und Ernst Ulrich von Weizsäckers Verdienst. Pragmatische Information ist das Produkt von Erstmaligkeit und Bestätigung, also wie neu ist etwas und wie sehr entspricht es den Strukturen des Empfängers.

Die pragmatische Information ist dann besonders hoch, wenn Erstmaligkeit und Bestätigung hoch sind. Beispielsweise ist beim zweitmaligen Lesen der Tageszeitung von gestern, der Erstmaligkeitsaspekt deutlich geringer, also sinkt bei gleichbleibender Bestätigung die pragmatische Information. Wenn man dahingehend zum ersten Mal eine chinesische Zeitung liest, ist zwar die Erstmaligkeit ungeheuer hoch, aber die Bestätigung gleich Null, weil man nur unverständliche Zeichen vor sich hat (Walter von Lucadou, Parapsychologe, Physiker und Systemtheoretiker aus Freiburg ergänzte Erstmaligkeit mal Bestätigung, die man als Wirkung von außen in das System sehen könnte, mit der umgekehrten Verlaufsrichtung: die Wirkung eines Systems für die Umwelt. Diese läßt sich mit dem Produkt aus Autonomie mal Verläßlichkeit darstellen. So ist beispielsweise ein sehr eigenständiger Mensch sehr informativ für seine Umgebung, was aber wenig nützt, wenn er nicht verläßlich ist, zu Treffen nicht erscheint. Umgekehrt ist ein sehr verläßlicher, gar anhänglicher Mensch im Regelfall nicht von großem Interesse, weil er nicht viel an Information zu vermitteln hat). Diese simplen Faktorenmodelle wirken trivial, sind es aber nicht, weil sie die grundsätzliche Abhängigkeit der Wirkung jeder Information auf die basalste Weise beschreiben. Auch daran läßt sich ermessen, daß der traditionelle Versuch, Information in absoluter Form zu objektivieren, nicht gelingen kann, weil der stets beteiligte pragmatische Aspekt in besonderer Form abhängig vom Einzelkontext ist.

Shannons syntaktische Theorie bezieht sich nur auf den Faktor Erstmaligkeit, der in seiner Theorie linear ansteigt. Der Faktor der Bestätigung bezieht sich hingegen auf das Verschränkungsverhältnis von Semantik und Pragmatik. Insofern liefern die Weizsäcker-Beiträge eine Übersetzung der Dreidimensionalität von Information in eine kompaktere Begrifflichkeit. Auch wenn die pragmatische Information logischerweise nicht streng formalisierbar ist und somit bislang in der scientific communinity ein Schattendasein fristete, richtet sie die Aufmerksamkeit auf eine immer deutlicher werdende Tatsache: Jede Information verändert den Empfänger.

Im Konstruktivismus geht es dann noch darüber hinaus, dort kippt ja bekanntlicherweise das Sender-Empfänger-Denken und damit das Übertragungsmodell von Informationen. Aktuelle Information entsteht innerhalb des Systems, keine aktuelle Information kann von außen hereingetragen werden, sie kann nur intern realisiert werden. Kein Input von außen kann das System determinieren, da der Originalreiz im Beispiel des Nervensystems bereits beim Eintritt verloren geht. Lediglich eine Irritation ist möglich, auf die das System mit seinen Operationszusammenhängen normalisierend antwortet. Durch die getrennten Operationszusammenhänge ist eine Redeweise von Information im Sinne eines "gemeinsame Wissens" problematisch. Die System/Umwelt-Grenzen werden also bei Lyres Ansatz regelmäßig ignoriert. Auch potentielle Information in Lyres Sinn ist ebenfalls Wissen über vergangene aktuelle Informationen und daher nach konstruktivistischer Sichtweise in der Vergangenheit im System erzeugt. Potentielle Information ist also subjektive Erfahrungssache. Oder wie Lyre es ausdrückt: "Erfahrung heißt, aus aktueller Information auf potentielle Information zu schließen". Was noch niemals in analoger Weise aktuell vorlag, kann also auch nicht mittels des theoretischen Potentialitätsbegriffs werden. Es handelt sich in Lyres Theorie also um eine definierte Art des Nichtwissens.

Potentielle Quanteninformation heißt bei Lyre keineswegs "hypothetisch", "spekulativ" oder nur "subjektiv", sondern potentielle Information ist solche, die man aktual erhalten kann, falls sich ein Beobachter dafür interessiert, indem er sich für eine Messung entscheidet. Man hat eine Verschränkung von zwei genau meßbaren Größen, wobei man diejenige tatsächlich erhält, die man für eine Messung auswählt. Unser Vorwissen über die potentiellen Zustände bedeutet also schon eine Eingrenzung des unendlich möglich Beobachtbaren auf eine Beobachtungsachse mit erwartbaren Alternativen.

1.2. Die Algorithmische Informationstheorie

Da sich durch die Ur-Theorie ganz fundamental ein mathematisches Motiv zieht, befaßt er sich zur Komplettierung des ur-theoretischen Informationsbegriffs auch mit der algorithmischen Informationstheorie. Diese mißt eine mathematisch definierte Art von struktureller Vielfalt. Das algorithmische Maß für Komplexität erfaßt die kürzestmögliche Beschreibung eines Objekts, je länger die kürzeste Beschreibung, desto komplexer, so einer ihrer Begründer Kolmogorow, Damit wäre aber das völlig Zufällige hochkomplex, weil hierbei die kürzeste Beschreibung die Wiederholung der Zufallsfolge darstellt. Dies führt also in Punkto Bedeutung auch überhaupt nicht weiter.

Einen von Lyre nicht erwähnten Ausweg aus diesem defizitären Modell bot Charles Bennett 1985 an. Sein Konzept der logischen Tiefe lautet folgendermaßen: Der Wert einer Nachricht besteht im Umfang der mathematischen oder anderen Arbeit, die von ihren Urhebern plausibel ausgeführt worden ist und die zu wiederholen dem Empfänger erspart bleibt. Je schwieriger es ist, zu einer Aussage zu kommen, je mehr Rechenzeit man braucht, desto größer ist die logische Tiefe. Oder um es noch prägnanter zu sagen: Die Bedeutung einer Aussage beruht nicht auf der syntaktischen Information der Aussage, sondern auf der Information, die während der Produktion aussortiert worden ist. Man könnte diesen Prozeß Exformation nennen. Also zählt nicht die Länge der Nachricht, die Nachrichtenmenge, sondern die dazu nötige Rechenzeit. Logische Tiefe oder Komplexität hängt also nicht so sehr vom Endprodukt ab, sondern ist mehr ein Ausdruck für den Produktionsprozeß. Logische Tiefe ist nicht formal definiert als die Anzahl von Schritten auf einem Weg, der einen Sachverhalt mit seinem möglichen Ursprung verbindet. Daran ist allerdings unbefriedigend, daß im Ausanahmefall auch eine mit wenig Rechenzeit erzeugte Information sehr bedeutsam sein kann (Bsp: Geniestreiche).

Daher ist Lyres Zusammenfassung: "Der algorithmische Informationsgehalt mißt aktuelle Information unter sowohl dem syntaktischen als auch semantischen Aspekten", bezüglich der semantischen Aspekte stark zu relativieren, denn mit Bedeutung im Alltagsgebrauch hat das wenig zu tun.

1.3. Systematik des vollständigen Informationsbegriffs

Ausgehend von zwei nicht mehr weiter fundierbaren Ausgangsannahmen, der Unterscheidbarkeit und der Zeitlichkeit konstruiert Lyre seinen vollständigen Informationsbegriff. Begriffliche Erkenntnis setzt seiner Meinung nach diese beiden Prinzipien voraus. Das Prinzip der Zeitlichkeit (Die Vergangenheit ist faktisch, die Zukunft offen) übernahm er von Weizsäcker, während er das Prinzip der Unterscheidbarkeit selbst postulierte. Zeit wird im Gegensatz zum Raum nicht durch Information erzeugt, sondern als Unterschied zwischen potentieller zu aktueller Information bereits vorausgesetzt. Zeit stellt demnach eine apriorische Größe dar.

Mit den zwei apriorischen Vorannahmen konstruiert er nun sein Satzsystem des vollständigen Informationsbegriffs:

1. Unterscheidungen der Vergangenheit werden aktuelle Informationen genannt, Unterscheidbarkeiten der Zukunft werden potentielle Information genannt.
2. Unterscheidungen und Zeitlichkeit sind miteinander verwoben. Zeitliche Übergänge sind immer ein Wandel von Unterscheidbarkeiten, und bereits Unterschiedenes führt zu neuer Unterscheidbarkeit.
3. Subjekte treffen Unterscheidungen. Unterscheidbarkeiten gibt es demnach nur für Subjekte.
4. Objekte werden durch mögliche Unterscheidungen konstituiert, Unterscheidbarkeiten gibt es an Objekten.
5. Information ist ein Maß für den Grad an Unterscheidbarkeiten. Die einfachste mögliche Unterscheidung wird Binarität genannt.
6. Das Unterscheidbarkeitsprinzip ist notwendigerweise selbstanwendbar. Jede Binarität setzt eine große andere Zahl Binaritäten bereits voraus.
7. Der Informationsbegriff besitzt eine inhärent zirkuläre Struktur, denn jede Semantik setzt schon eine andere Semantik voraus.
8. Der syntaktische Aspekt von Information betrifft das Auftreten von Unterscheidbarkeiten
9. Der semantische Aspekt von Information betrifft diejenigen Unterscheidbarkeiten, unter deren Voraussetzung Unterscheidbarkeiten im syntaktischen Sinne überhaupt nur auftreten können.
10. Der pragmatische Aspekt von Information betrifft neu bewirkte Unterscheidungen, die als eine Folge des semantischen Aspekts früherer Unterscheidbarkeiten auftreten.
11. Im Fluß von Informationen ist die Verwobenheit von Zeitlichkeit und Unterscheidbarkeit repräsentiert – als Übergang von potentieller zu aktueller Information

1.4. Der quantenmechanische Meßprozeß in informationstheoretischer Sichtweise

Die Wahrscheinlichkeitsfunktion der Schrödingerschen Wellengleichung läßt sich als ein konkreter Fall von potentieller Information verstehen. Nicht umsonst ist dafür auch der Begriff "Informationskatalog" geläufig, aus dem eine aktuelle Information ausgewählt wird. Gegenüber dem Begriff Wahrscheinlichkeit ist potentielle Information aber der allgemeinere Begriff. Die Einführung des Begriffs "potentieller Information" steht nicht im Widerspruch zur speziellen Quanteninformation wie sie Charles H. Bennett prägte, sondern daß umgekehrt der Begriff der potentiellen Information sowohl klassische als auch Quanteninformation umfaßt! Die Einheit für Quanteninformation ist das Qubit (quantum bit), eine Bezeichnung, die sich weitgehend durchgesetzt hat. Das Qubit ist dadurch vom normalen Bit zu unterscheiden, daß die Alternativen nicht getrennt sind, sondern sich überlagern. Bennett sieht in den Qubits dieselben Charakteristika verwirklicht, die Quantenzustände auszeichnen, das sind:

1. Superposition: Ein System kann sich in einer Linearkombination von Zuständen befinden
2. Interferenz: Superponierende Zustände können einander auslöschen und verstärken
3. Verschränkung: Bei der Zusammensetzung von Teilsystemen zu Gesamtsystemen (via Tensorprodukt) gibt es Korrelationen durch die Superposition der       Produktzustände der Teile im Gesamtsystem
4. Nicht-Klonierbarkeit und Unbestimmtheit: Ein beliebiger, aber unbekannter Quantenzustand kann weder akkurat kopiert noch beobachtet werden, ohne daß er dabei zerstört wird.

Das Ur ist aber fundamentaler angesetzt als die inzwischen geläufige Qubit-Vorstellung Bennetts, die aber einen mit der Theorie verträglichen konkreten Spezialfall darstellt (Wenn von Qubits in der Quantenphysik die Rede ist, ist damit z.B. der Unterschied zwischen spin-up und spin-down, vertikaler und horizontaler Polarisation usw. gemeint). So verwendet Lyre auch immer wieder das Qubit als Ausdruck des Urs. So betrachtet er den Meßprozeß auch mit dem Treffen einer Ja-Nein-Unterscheidung, was auf ein Ur zurückgeführt werden kann.

Die Reduktion im Meßprozeß beruht auf der bei jeder Beobachtung vorauszusetzenden Unterscheidung von potentieller und aktueller Information. Die Irreversibilität der quantenmechanischen Messung wird gerade durch den Übergang von Quanteninformation in aktuelle, klassische Information zum Ausdruck gebracht. "In diesem Sinne benötigt aktuelle Information im Gegensatz zu potentieller Quanteninformation vermutlich immer eine materiell-energetische Umsetzung. Eben diese können wir dann als irreversible Aktualisierung von Information ansehen, denn es kann schlechterdings keine virtuellen, d.h. unbeobachteten Fakten der Vergangenheit geben. Dies bedeutet dann aber auch, daß die Erstellung aktueller Information immer mit einem Energieaufwand verbunden ist." Diese irgendwie erwartbare Energiegrenze ist in ihrer Größenordnung aber weitgehend umstritten.

Interessant wäre die Frage gewesen, wie Lyre beim Meßvorgang mit der Zeit umgeht, schließlich besteht eine "early-late"-Debatte (verschiedene Physiker trennen im Geiste die physikalische Messung vom Ablesen des Ergebnisses durch den Beobachter zeitlich!). Seine Meinung dazu lautet jedoch, daß man im von ihm detailliert beschriebenen Reduktionsvorgang von keiner zeitlichen Reihenfolge sprechen kann. Sein Umgang mit der Zeit ist also klassisch zu nennen (Vergangenheit ist faktisch, die Zukunft offen). Durch einen apriorischen Zeitablauf als Bedingung jeder Erkenntnis stellt er sich nicht der Problematik, die Schelling mit Naturzeit (einem unbeobachteten imaginären Zeitablauf) vs. Sinnzeit (durch Beobachter) andachte. Zeitlichkeit ist nach Lyre keine Folge von Information, sondern als Unterschied von potentieller zu aktueller Information bereits vorausgesetzt

2. Weizsäckers Ur-Hypothese

Weizsäcker Theorie ist von der Absicht geprägt, den Aufbau der Physik anhand von möglichst einfachen abstrakten Postulaten zu rekonstruieren. Diese Postulate sollen mittels abstrakter Objekte berechenbar sein, die Weizsäcker als Ure einführt. Anhand der Ure stellt er ein quantentheoretisch behandeltes Informationsmodell auf. Lyre nennt das Modell daher auch metaphorisch "Logischer Atomismus", wobei die Ure als "Informationsatome" aufgefaßt werden.

Definition einer Ur-Alternative: Die binären Alternativen, aus denen die Zustandsräume der Quantentheorie aufgebaut werden können, werden Ur-Alternativen genannt. Das einer Ur-Alternative zugeordnete Subobjekt wird ein Ur genannt. Ur-Alternativen repräsentieren den Informationsgehalt einer möglichen Ja-Nein-Entscheidung, also 1 bit quantentheoretisch behandelte potentielle Information. Die Hypothese besagt, daß alle Zustandsräume aller Objekte der Physik essentiell aus Uren aufgebaut sind.

Ur-Alternativen stellen potentielle Information dar und sind somit nicht "beobachtbar" im Sinne des empirischen Gegebenseins von Teilchen. Bei den Uren handelt es sich im Gegensatz zu Teilchen um ein räumlich nicht lokalisierbares Phänomen. Ure dürfen also keinesfalls mit Elementarteilchen gleichgesetzt werden, denn als mathematische Beschreibung sind sie nicht lokalisierbar. Trotzdem kann man behaupten, daß beim Meßvorgang ein einzelnes Ur entsteht, eine einzelne Ja-Nein-Entscheidung getroffen wird.Wie in der Informationstheorie alle Größen in viele Ja-Nein-Entscheidungen zerlegt werden können, so kann man dies auch für physikalische Phänomene tun, so stellte die Ur-Theorie eine informationstheoretische Reformulierung der Quantentheorie dar. Oder andersherum: die Theorie ist eine quantentheoretische Behandlung der Informationstheorie. Die letzten binären Einheiten sind jedoch im Gegensatz zur klassischen Informationstheorie nicht eindeutig trennbar, sondern befinden sich in einem Überlagerungszustand. Außerdem steckt in der Ur-Theorie eine Überwindung der Subjekt-Objekt-Trennung, denn Ure sind sowohl als subjektive Ur-Alternativen wie als objektive Ur-Objekte charakterisierbar.

Die Ur-Theorie ist aus dem Bedürfnis entstanden, die Quantentheorie philosophisch zu verstehen, d.h. das Ziel ist, daß man einsehen kann, was man tut, wenn man deren Formalismus anwendet. Es geht also um eine abstrakte Herleitung der physikalischen Grundbegriffe. Sie stellt eine bislang spekulative Theorie dar, weil, obwohl sie mathematisch trivial überprüfbar ist (jede mehrfache Alternative läßt sich in binäre Alternativen zerlegen; die mehrdimensionalen Zustandsräume der Quantentheorie lassen sich in zweidimensionale Zustandsräume zerlegen, d.h. die Theorie ist außerordentlich symmetrisch), sie noch keine empirische Überprüfung des mathematischen Grundmotivs erlaubt. Die bislang fehlende Falsifizierbarkeit mag ein Grund sein, warum sie nicht viel Zustimmung in Physikerkreisen gefunden hat.

Den zeitlichen Aspekt in Form des vorausgesetzten Unterschieds von Vergangenheit und Zukunft spiegelt dann das Wachstum der Ur-Anzahl wider. Die Zahl der Ure im Universum ist aber in jeder Epoche begrenzt. Weizsäcker gibt einen Schätzwert von 10 hoch 120 an. Selbst einzelne Teilchen weisen astronomische Ur-Zahlen auf: Weizsäcker schätzte beispielsweise, daß sich ein Elektron aus 1 hoch 37 Uren zusammensetzt.

Weizsäcker betont stets den trivialen Charakter der Ur-Hypothese. Doch ist sie nicht nur eine Neuformulierung ohne weiteren Erkenntnisgewinn, sondern sie weist auch physikalische Relevanz auf. Der entscheidende Schritt liegt im mathematischen Grundmotiv der Ur-Theorie: die Herleitung und Identifikation der Raumzeit aus dem quantentheoretischen Zustandsraums der Ure, bzw. die Begründung der vierdimensionalen Raumzeit-Struktur aus fundamentalen mathematischen Basisobjekten. Dahinter verbirgt sich folgender Gedanke: Empirisches Wissen repräsentiert sich räumlich, doch dies ist keine Folge bereits vorhandener Gegenstände im Raum, sondern umgekehrt: der Raum ist die Folge unseres Wissens von möglichen Gegenständen. Oder kurz: Unterscheidbarkeit läßt Raum erst entstehen. Ure sind keine Objekte in der Raumzeit, sondern Ausdruck der Existenz von Raum und Zeit. Nicht nur Objekte, sondern auch der Raum werden durch Information konstituiert. Gemäß dieser Theorie gibt es keinen leeren Raum, kein Vakuum im bisherigen Sinne, auch das Vakuum ist demnach eine Manifestationsform der Information (in nicht aktualisierter Form). Es gibt also niemals keine Information.

Ure gelten momentan als ununterscheidbar (dies ist aber ein strittiger Punkt, einerseits soll eine Alternative eindeutig festgelegt sein, verschiedene Ur-Alternativen müßten daher unterscheidbar sein. Andererseits müßten dadurch weitere Alternativen angenommen werden, die eben diese Unterscheidbarkeit hervorbringen. Auf der zweiten Quantisierungsstufe des Urs ist die Unterscheidbarkeit dann aber auf alle Fälle gegeben.

2.1. Mehrfache Quantisierung

Die Idee der mehrfachen, d.h. iterisierten Quantisierung stellt die quantentheoretische Variante der Weizsäckerschen Denkfigur des Kreisgangs dar. Iteration bedeutet hier die Anwendung eines wissenschaftlichen Verfahrens auf seine eigenen Resultate (die erste Quantisierungstufe stellt die binäre Alternative dar, die 2. Quantisierungsstufe führt zu einer Viel-Ur-Theorie, also zu einer Quantenfeldtheorie der Ure). Dabei werden besonders die Selbstanwendbarkeit und die Iterierbarkeit des Verfahrens betont. Man befindet sich zwar nach dem Durchlaufen des Kreises wieder an der Ausgangsposition, ist aber dabei ein anderer geworden. Dies ist ein durch rekursive Selbstorganisationstheorien inzwischen geläufiger Gedanke, der mit einer dynamischen Veränderung, einer Selbstkorrektur einhergeht. Mathematisch ausgedrückt führt die Quantisierung zu Funktionen, die systematisch von ihren Ursprungsgrößen abhängen. Höherstufige d.h. mehrfach quantisierte Funktionen führen jedoch zu unterschiedlichen Wellenfunktionen als die ihrer Ursprungsgrößen.

Aufgrund der Rekursivität stellt die Theorie logische Herausforderungen, der eine zweiwertige Aussagenlogik im Sinne Booles nicht genügt, dazu wurde eine mehrwertige Logik erforderlich, die sogar noch über die allgemein anerkannte Quantenlogik hinausgeht. Weizsäcker nannte sie Komplementaritätslogik, später zeitliche Logik. Der Unterschied liegt in der Herausstellung des Stufencharakters als notwendiger Folge der Selbstanwendbarkeit.

3. Fazit

Lyre bewegt sich in schwierigen logischen Terrain bis auf wenige Ausnahmen immer auf gesicherten Boden (Jede Information ist immer nur Information über Objekte für jemanden) Er tut dies dadurch, daß er wie Weizsäcker jede Potentialitäts-Aktualitäts-Unterscheidung im Lichte eines möglichen Meßvorgangs betrachtet. Auf diese Weise enthält er sich der Spekulation darüber, was sich in der Potentialität abspielen könnte und ob auch die Natur, Zellen Tiere diese Potentialitäts-Aktualitäts-Unterscheidung zustande bringen. Information ist wie jedes Konzept menschlicher Wissenschaft grundsätzlich beobachterabhängig. Lyre geht also nicht den Schritt, den zum Beispiel der Biophysiker Küppers mit Weizsäckers Informationsthesen beschreitet, nämlich den Informationsbegriff auf die DNS-Transkription zu beziehen, daß ein DNS-Strang von der RNS als Information gelesen wird, obwohl das für einen menschlichen Beobachter so wirkt. Man könnte sich sicherlich darauf einigen, daß in den Genen Unterschiede prozessiert werden, die aber wohl kaum bewußte Unterscheidungen, Beobachtungen sind. Dies nachzuweisen dürfte schwierig sein, weil wir nicht die DNS sind und nicht beurteilen können, was sie "wahrnehmen" kann. Ein Informationsbegriff ist immer an unser Wissen von Sachverhalten und Objekten gebunden. Information ist aber nur dasjenige, was für ein Subjekt an einem Objekt existiert, daher ist Information weder eine rein subjektive noch objektive Größe. Lyre formuliert etwas metaphorisch: "Der Stoff, aus dem unser Wissen besteht, ist per se auch der Stoff, aus dem die Welt selbst besteht (da wir sinnvoll nur von einer Welt reden können, die prinzipiell wißbar ist). Dieser "Stoff" ist Information.

Bei Lyre zählt nur die von einem Wissenschaftler möglicherweise durchführbare Messung. Dadurch vermeidet er leichtfertige Extrapolationen und Paradoxien. Aber durch die Mißachtung der System-Umwelt-Grenzen ergeben sich dann doch einige Widersprüchlichkeiten bei der "Verortung" bzw. Eingrenzung der Potentialität. Eine der Kernaussagen der autopoietischen Systemtheorie lautet: Das System hat Umweltkontakt nur durch Selbstkontakt. Da keinerlei ungefilterter Kontakt zur Außenwelt (siehe unser Nervensystem) besteht, können keine Aussagen über die Umwelt "dort draußen" gemacht werden. Daher ist die Subjekt-Objekt-Trennung durch eine systeminterne Unterscheidung Selbstreferenz vs. Fremdreferenz ersetzt worden. Seine Aussage, daß das Unbewußte ein Jenseits der Information, also auch ein Jenseits der potentiellen Information darstellt, läßt die Aussagekraft der Theorie hier grundsätzlich verschwimmen. Selbstverständlich sind auch viele Phänomene unserer Welt nicht angemessen binarisierbar. Auch dort hat jegliche Informationstheorie ihre Grenzen.

Wissenschaft sollte darin bestehen, daß man eine Technik, ein Verfahren, eine Begrifflichkeit anwendet, aber sich auch darüber bewußt ist, daß man das tut und dementsprechend die Grenzen des jeweiligen Erkenntnisbereichs bemerkt. Der Versuch, die Welt mittels binärer Information zu beschreiben, bringt in gewisser Hinsicht handhabbare Ergebnisse, in anderen Bereichen ist sie schlicht nicht adäquat (Liebe, freier Wille, Poesie, usw). Weizsäcker ist dies vermutlich explizit bewußter als seinem Schüler, der sich auf eher unausgesprochene Weise bewußt ist, daß er hier nur wissenschaftliche Modelle binär rekonstruiert. Auch der nicht mehr klassische Rahmen der Quantentheorie der Information kann in seiner formalen Form den zweiten menschlichen Modus, das Erleben nicht in sich aufnehmen.

3.1. Die Vorteile der Theorie

Diese bestehen im Zusammendenken von Informationstheorie und Quantentheorie, dadurch ist ein logisch kohärentes und symmetrisches System denkbar, daß die verschiedene Teilbereiche der Physik in sich aufnehmen könnte (bspw Relativitätstheorie und Quantentheorie: wegen des mathematischen Grundmotivs kann die Relativitätstheorie als Folge der Quantenphysik aufgefaßt werden). Bei aller Abstraktion handelt es sich um einen noch laufenden Bauversuch einer Einheitstheorie, das zudem das Subjekt-Objekt-Verhältnis neu beleuchten kann. Die quantentheoretische Behandlung von Information in der Ur-Theorie hat das relativistische Raumzeit-Konzept zur Folge. Einsteins Spezielle Relativitätstheorie läßt sich so auch vollkommen aus der Quantentheorie des Urs herleiten. Lyre sieht außerdem durch das Informationskonzept eine Überwindung der Bewußtsein-Materie-Problematik möglich, da all diese Phänomenbereiche auf Information zurückzuführen sind (= informationstheoretischer Reduktionismus).

3.2. Die Nachteile der Theorie

Die Ur-Theorie wird vom Mainstream der Physiker weitgehend mißachtet. Das liegt einerseits daran, daß sie das Konzept für einerseits zu trivial halten, andererseits für zu abstrakt halten und keinen praktischen Erkenntnisfortschritt darin sehen. Die Theorie enthält aber neue Hypothesen, nur sind diese wegen der großen Zahlen von mathematischen Termen für massive Teilchen (mind. 10 hoch 40) wohl niemals berechenbar. So ist die Theorie bislang gar noch nicht direkt falsifizierbar. Lücken der Theorie bestehen bei der fehlenden Beschreibung der Masse und der Wechselwirkung. Weiterhin ist das Konzept der mehrfachen Quantisierung nicht völlig verstanden und bislang nicht völlig formalisierbar. Außerdem faßt es die Information als einzige Substanz auf. Wie unterscheidbare Alternativen als Substanz gedeutet werden können, bleibt dabei fragwürdig, denn es ist gerade die Differenz, die den Informationsbegriff ausmacht. Ein weiterer Punkt, der nicht angesprochen wird, ist die Frage, ob Ure auch vernichtet werden können, wie es bei einer feldtheoretischen Herangehensweise normalerweise angenommen werden muß.

3.3. Abschließende Gedanken zur Potentialität

Lyre grenzte diese mit dem folgenden Spruch auf zwei Weisen ein: "Potentielle Information umfaßt das empirisch Wißbare". Wissenschaft kann nie das erstmalige Auftreten etwas völlig Neuen (bzw. Neukombination von Bekanntem) erwarten bzw.in Echtzeit integrieren. Die neuartig schöpferischen Handlungen oder gar ganze Emergenzschritte sind mit wissenschaftlichen Methoden nur retrospektiv beschreibbar, also nur, wenn man sie schon kennt (es spricht natürlich nichts dagegen, und das wurde auch getan, ein "Gesetz der Sprünge" heraus zu analysieren). Darüber hinausgehend meint er mit empirisch, daß nur Fragestellungen, die mittels wissenschaftlicher Formalismen sinnvollerweise beantwortet werden können, in seinen Potentialitätsbegriff fallen. Also kurzgesagt: das wissenschaftlich definierte Nichtwissen, das aber früher in vergleichbaren Weise schon gewußt wurde. Weizsäcker ging im Hinblick auf die Bewußtseinsforschung sogar noch darüber hinaus. Nichts würde die Ausdehnung seiner quantenphysikalischen Ansätze auf das Mind-Body-Problem verhindern, denn sobald man eine empirisch unterscheidbare Ja-Nein-Frage herauskristallisiert, könnte die Ur-Theorie dies informationstheoretisch rekonstruieren.

Wenn wir einmal versuchen, den Potentialitätsbegriff nicht formal wissenschaftlich zu denken, wir aber zuerst nicht prophetisch auf Neuerschaffungen oder gar neue Emergenzstufen orientiert sind, stellt sich die Frage, was eine Potentialität "ist". Ist sie noch nichts Wirkliches, ist sie eine andere Wirklichkeit, ist sie gar "Alles", aus dem dann ein winziger Kreisausschnitt bewußt d.h. für einen Beobachter aktualisiert wird, weil es mittels des Bewußtseins scheinbar möglich ist, aus dem ineinander verschlungenen Weltenlauf herauszutreten und ihn sich anzusehen. Das menschliche Bewußtsein höherer Ordnung (Welt- und Selbstreflektionen) ist nichts anderes als die Erzeugung einer Form, in der die eine Seite sieht und die andere Seite gesehen wird. Dabei gerät aber notwendigerweise ein Teil (zwingenderweise auch der nicht bewußte Teil von uns selbst) aus dem Blick. Den "Helligkeitsgewinn" müssen wir mit Dunkelheit an anderer Stelle bezahlen. Stellt man nun Vermutungen an über die "Mechanismen" des Unbewußten anhand der aus ihm aufgetauchten Phänomene, stößt man auf eine andere Verarbeitungsweise, nämlich eine raumzeitlose, aber nach ähnlichen Bedeutungen geordnete, bildhaft kondensierende, gefühlsbetonte

Ist die Potentialität stabil, eine unbewegte ewige ganzheitliche Wahrheit, aus der nur verschiedene Perspektiven aktualisiert werden oder verändert sie sich je nach beabsichtigter Fragestellung, je nach erfolgten Aktualisierungen? Potentialitäten oder Möglichkeiten hängen offensichtlich davon ab, welche Fragen man an die Natur stellt. In der Quantenphysik bekommt man eine andere Antwort, je nachdem ob man sich für die Wellen- oder die Teilcheneigenschaften interessiert. Auch ändert sich durch Variationen an der Versuchsanordnung die Wahrscheinlichkeitsverteilung des Ergebnisses.

Allerdings scheint die Natur den Fragen gewisse Regeln aufzuzwingen, die physikalischen Erhaltungssätze scheinen die Möglichkeiten zu reglementieren. Wenn man einen Stein in die Luft wirft, muß dieser irgendwann wieder zu Boden fallen. Mit dieser Einschränkung - das Physikalische scheint eine gewisse Eigenstabilität aufrechterhalten zu wollen - sind dennoch eine Unzahl an zumindest indirekt beantwortbaren Fragen möglich. Je nach Frage erhält man eine andere Antwort. So werden in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen verschiedene Fragen und dadurch auch verschiedene Möglichkeiten behandelt.

Die Quantenphysik spricht von einem Möglichkeitshorizont im Hilbertraum, der potentiellerweise so viele Dimensionen einnehmen kann, wie Freiheitsgrade in der Schrödingerschen Wellengleichung enthalten sind. Dreidimensional gesehen kann sich, wie bei CERN in der Schweiz geschehen, ein Möglichkeitshorizont in einem perfekt abgeschirmten System über Kilometer erstrecken. Es liegt also eigentlich nicht an der räumlichen Distanz, sondern an etwas anderem: dem in quantenphysikalischen Meßanordnungen gut isolierten Kontext, wenn man so will: den Systemgrenzen der Meßanordnung, innerhalb dessen eine Verschränkung aufrechterhalten wird.

In der Psychoanalyse, Psychotherapie und mit großen Einschränkungen in der wissenschaftlichen Psychologie hat die Potentialität unter den Namen Unbewußtes, Unterbewußtes, Vorbewußtes eine hohe Bedeutung. Dort wird deutlich, daß das Unbewußte, wenn von einem externen Beobachter beobachtet, eine sinnvolle Sprache zu sprechen scheint, die ganz anderen Regeln folgt als das analytische Denken.

Ebenso untersucht die Hirnforschung die Potentialität, wenn sie Phänomene wie Priming, Blindsight, Neglect u.a. beschreibt. Dort stieß man auf ein implizides Gedächtnis, das je nach Sinnesmodalität von wenigen bis etwa 20 sec Reize unbewußt speichern kann.

Klar in allen diesen Fällen ist folgendes: Man kann nichts über das Potentielle, Unbewußte gewiß aussagen, es sei denn es wurde schon einmal in analoger Weise beobachtet, d.h. es wurde bereits früher schon aktuelle Information. Dieser Schnitt ist, zumindest in der wissenschaftlichen Praxis unüberwindlich. In wieweit dies Mystikern und Zen-Buddhisten mit deren verfeinerten Zugang zum Unbewußten gelingt, mag hier außen vor bleiben. 

Literatur

Lyre, Holger: Die Quantentheorie der Information, Springer Akademischer Verlag, Berlin 1998
- Time and Information in: Atmanspacher, H. Time, Temporality, Now, Springer Akademischer Verlag Berlin, 1997
Nörretranders, Tor: Spüre die Welt – Die Wissenschaft des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1997
Küppers, Bernd-Olaf, Der Ursprung biologischer Information, 2. Auflage, München 1990
Wolf, Johannes E. - Quantum Metaphysics:  http://home.sprynet.com/sprynet/jowolf/
Holger Lyres Homepage mit verschiedenen Texten und Erläuterungen zur Ur-Theorie ist unter http://www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/staff/lyre.htm zu finden
zum Anfang

Layout: Datadiwan eMail:webmeister@datadiwan.de